Soko Sozial

Begonnen von Kater, 18:17:36 Mi. 19.April 2006

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Kater

ZitatSoko Sozial

Hartz IV ist viel teurer als erwartet. Die Kommunen befürchten eine weitere Kostenexplosion. Städte wie Offenbach setzen jetzt zusätzliche Ermittler ein, um Sozialbetrüger noch systematischer zu verfolgen.

Den Brief mit dem Foto eines Nummernschilds bekommt Helena Fürst an einem Montagvormittag. Sie reißt ihn auf und wundert sich nicht weiter, sie bekommt häufig solche Post. Meist tragen die Briefe Unterschriften wie "Ein ehrlicher Steuerzahler", sie sind meist so anonym wie die Anrufe, die seit Wochen das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingeln lassen. Diesmal also ein Foto, ein Bild von einem deutschen Kennzeichen an einem deutschen Auto, TÜV abgelaufen, aufgenommen von einem empörten Urlauber auf den Balearen. "Interessant", murmelt Fürst. Vielleicht eine neue Spur in einem alten Fall, vielleicht auch ein ganz neuer. Wird sich noch herausstellen.

Der Brief landet auf einem der beiden Schreibtische, die sich in dem kleinen Büro gegenüberstehen. Die Wände sind leer; neben der Tür wartet ein Berg Akten, die ein Karton mühsam zusammenhält. Potenzielle Betrugsfälle, Arbeitslosengeld II, alle noch zu prüfen. Fürst leitet die Ermittlungsgruppe, die seit vier Monaten im Landkreis Offenbach Hartz-IV-Empfängern hinterherspürt, die mehr Geld bekommen, als ihnen eigentlich zusteht.

Deutscher Städtetag beklagt Kostenexplosion

Solche Aktenstapel gibt es derzeit viele in Deutschland, sie sollen die Hartz-Reform retten. Das Gesetz ist 15 Monate alt; als es Anfang 2005 in Kraft trat, feierte die Regierung es als einen großen Schritt, hin zu mehr Arbeit und weniger Ausgaben für den Sozialstaat. Womit keiner gerechnet hatte: Die jährlichen Ausgaben sind seither gestiegen, und zwar um 4,5 Mrd. Euro, sagen die einen, um 12 Mrd. Euro die anderen. Die Zahlen, die im vergangen Herbst deutsche Sozialpolitiker durchrüttelten, widersprachen sich, je nachdem, wer sie vorlegte. Jetzt beklagt sich der Deutsche Städtetag über eine "dramatische Kostenexplosion". Die Tendenz ist überall gleich: Hartz IV kostet mehr als erwartet. Viel mehr.

So kann es nicht weitergehen. Schon der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement veröffentlichte ein Papier: "Vorrang für Anständige - gegen Missbrauch, ,Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat". Auf 33 Seiten werden mehr als 20 Menschen präsentiert, die ihr Arbeitsamt übers Ohr hauen wollten, indem sie Einkünfte verschwiegen oder sich Wohnungen bezahlen ließen, in denen sie gar nicht leben. Wie viele solcher Fälle es tatsächlich in Deutschland gibt, steht nicht drin. Es gibt auch keine Zahlen, nur Schätzungen - zwanzig Prozent Betrugsfälle, sagen die einen, fünf Prozent Betrugsfälle die anderen, die Höhe hängt wieder davon ab, wer sie vorlegt. In jedem Fall sorgt dieses Thema in den Medien für viel Aufregung.

Helena Fürst trägt an diesem Montag eng geflochtene Zöpfe, an ein paar Stellen sind ihre Haare blondiert. Das ist ihre "Mallorca-Frisur", sagt sie. In der vergangenen Woche hat sie mit ihrem Kollegen Helge Hofmeister wieder auf den Balearen ermittelt. Es ging um eine Spur aus dem Fall "Mallorca-Karin", dem Fall von Karin K. aus Mühlheim am Main, die Arbeitslosengeld kassierte, obwohl sie ganz gut damit verdiente, auf Mallorca Ferienwohnungen zu vermieten.

Fürst und ihre Ermittler erwischten sie Anfang Februar, die "Bild"-Zeitung berichtete groß über den Fall, bei Frau K. lagen tagelang die Fotografen im Gebüsch, und Helena Fürst war häufig im Fernsehen - deswegen braucht sie eine Sonnenbrille und eine andere Frisur, wenn sie als Touristin getarnt auf der Ferieninsel unterwegs ist. Erkannt wird sie trotzdem manchmal: "Die Leute kommen auf mich zu und sagen: 'Toll, dass endlich mal was gemacht wird.'"

Andere unternehmen selbst etwas und schicken empörte Briefe nach Offenbach, mit Hinweisen auf vermeintliche Sozialschmarotzer aus der Nachbarschaft. Bei Fürst und ihren Kollegen stapeln sich die Akten. Ermitteln können sie zwar nur in Fällen, die die rund 11.500 Arbeitslosengeld-II-Empfänger im Landkreis Offenbach betreffen, aber seit es ihre Ermittlungsgruppe gibt, haben sie schon mehr als 154 Fälle abgeschlossen, dabei 62 Menschen erwischt und der Staatskasse Ausgaben von 225.000 Euro erspart. In nur vier Monaten.

Landrat Peter Walter (CDU) bekommt jetzt häufig Anrufe aus anderen Städten und Gemeinden, die wissen wollen, wie genau ermittelt wird. Die meisten Städte besuchen die Antragsteller inzwischen zu Hause und überprüfen, ob sie tatsächlich die beantragten Möbel brauchen. Aber nur in Offenbach haben sie eine Ermittlungsgruppe eingerichtet, in der auch die Polizei mitarbeitet. Wenn sich hier morgens ein vermeintlicher Schwarzarbeiter auf den Weg zur Arbeit macht, kann es inzwischen sein, dass ihm unauffällig ein Auto folgt.

"Die Grünen haben uns vorgeworfen, wir würden einen Schnüffelstaat installieren, aber wir verwenden hier keine illegalen Methoden, nur die Rechte die uns zustehen", sagt Walter. Vor ihm auf dem Tisch liegt eine Schachtel Marlboro, und während er spricht, verbiegt er eine Büroklammer so lange, bis von ihr nur ein gerader Draht übrig bleibt. "Landrat Hammerhart" hat ihn die "Bild"-Zeitung genannt.

Beschuldigte in Fleischfabrik gesucht

In Offenbach arbeiten sie zu dritt. Fürst, die Betriebswirtin, die schon so lange in Arbeits- und Sozialämtern arbeitet, dass sie jede Schummelei und jedes Elend einmal gesehen hat. Ihr gegenüber sitzt Jörg Diker, Jurist, zurückgegelte Haare und hochgekrempelte Hemdsärmel. Und dann ist da noch Helge Hofmeister, Polizist, ein Streetworker-Typ; er hat den beiden Kollegen gezeigt, wie man ein anderes Auto auch im dichten Verkehr nicht aus den Augen verliert und wie man sich unauffällig in auffälligen Gegenden herumdrückt.

Es wäre ein guter Stoff für einen "Tatort": Ermittlungen im Ausland und an den Haustüren im Landkreis, Verbrechen in der Sonne und soziales Elend in Deutschland. Politik und pointierte Dialoge. Und sehr viele Zigaretten. Das könnte der Krimi der Zukunft sein. Die Spannung ist nicht immer so groß, denn ein Großteil der Ermittlungsarbeit ist: Warten. Und Autofahren.

"Ist der besoffen? Der schickt uns ja im Kreis herum", schimpft Hofmeister und meint das Navigationssystem. Seit halb sieben sind sie im Dienst, jetzt ist es Viertel nach fünf, sie haben Akten gewälzt, einen vermeintlichen Schwarzarbeiter in einer Autowerkstatt gesucht und eine Beschuldigte in einer Fleischfabrik. Sie haben Fotos von Verdächtigen besorgt, das Kennzeichen aus dem Brief überprüft und nichts feststellen können, sie haben vergeblich an vielen Haustüren geklingelt, vor Hofeinfahrten gestanden und gewartet; und sie haben dabei sehr viele Zigaretten geraucht.

Kein Fang heute, jetzt kümmern sie sich um den Kleinkram, Überprüfung von "Anträgen auf Erstausstattung". Jeder Mensch in Deutschland hat das Recht auf einen Kühlschrank, ein Bett und einen Herd, und wenn er sich das nicht selbst leisten kann, zahlt das Amt. Ob die Antragsteller wirklich bedürftig sind, überprüft Fürst mit ihrer Truppe. "Das Tagesgeschäft bringt am meisten", hat Diker am Vormittag gesagt, "wenn Sie zehnmal 1500 Euro am Tag sparen, lohnt sich das." So sehr, dass die Ermittlungsgruppe ausgebaut werden soll, ab Juni wird es zwei zusätzliche Ermittler geben.

Gerade waren die Kollegen bei einem Ehepaar, das einen Antrag auf Unterstützung gestellt hat, obwohl bereits alles in seiner Wohnung steht. "Hast du auf die Details geachtet", hat Hofmeister im Rausgehen gefragt, "am Schlüsselbrett hing ein Autoschlüssel zum Zusammenklappen, BMW oder VW, neues Baujahr." "Dass die kein Geld haben, glaube ich ihnen nicht", sagt Fürst. Der Antrag wird wohl nicht durchgehen. Wieder 1000 Euro gespart.

Gegenüber von Landrat Walters Büro liegt das des Kreisbeigeordneten Carsten Müller von der SPD, Leiter des Fachbereichs Soziales. Auch er war für die Ermittlungsgruppe, selbst wenn das zunächst nicht nach einer Idee klingt, die zur SPD passt. "Das ist durchaus eine sozialdemokratische Idee", widerspricht er. "Wir wollen die Schwachen unterstützen, aber nur die wirklich Schwachen." Ein bisschen Angst vor den Ergebnissen hat er trotzdem. "Ich will keine Vorurteile schüren", sagt er. Das Vorurteil zum Beispiel, dass die meisten bloß zu faul seien. Was, wenn die Schätzungen richtig sind, und jeder Fünfte betrügt. "Wären 20 Prozent Betrug noch ein Vorurteil?", fragt Müller.

Um die Hartz-Reform zu retten, braucht es sowieso mehr, das sieht auch die Bundeskanzlerin so: "Es wird nicht reichen, nur den Missbrauch in den Mittelpunkt zu stellen. Wir müssen uns vielmehr mit den prinzipiellen Konstruktionsschwächen beschäftigen", hat Angela Merkel gesagt. Die Ausgaben der Arbeitsämter werden nur dann sinken, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt. Aber Hartz IV hat kaum neue Jobs geschaffen. Wenigstens im Landkreis Offenbach werden es im Juni wieder zwei sein.

http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/services/nachrichten/ftd/PW/62866.html

jensen-ex

ZitatMeist tragen die Briefe Unterschriften wie "Ein ehrlicher Steuerzahler", sie sind meist so anonym wie die Anrufe, die seit Wochen das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingeln lassen. Diesmal also ein Foto, ein Bild von einem deutschen Kennzeichen an einem deutschen Auto, TÜV abgelaufen, aufgenommen von einem empörten Urlauber auf den Balearen.

iihgittigitt
So it goes.

Kurt Vonnegut

Wilddieb Stuelpner

Hartz IV bringt keine Verbesserung der sozialen Lage von Arbeitslosen, sondern
  • Staatsschnüffelei von Beamtenbütteln, die von allen Angehörigen dieses Volkes ausgehalten werden,
  • Neuzüchtung von "staatstreuen" Denunzianten, die über Minderwertigkeitsgefühle verfügen und
  • unsinnige Schnüffelkosten.
Wenn mit der gleichen Energie diese Schnüffeltruppen in Unternehmen bei Geschäftsführern und Managern erpresserische Drohungen loslassen würden, mit der Maßgabe, daß diese Herrschaften eingebuchtet werden, wenn sie ihrer grundgesetzlichen Sozialverpflichtung im Sinne von sozialpflichtiger, tariflicher Beschäftigung von geeigneten Arbeitslosen nicht nachkommen, andernfalls ordentlich Firmenrazzia betrieben wird und alle Vierteljahre die Geschäftsbücher, Bilanzen, Abschlußberichte etc. geprüft werden und die Firmen beschlagnahmt und verstaatlicht würden, in jedem Fall bei Firmenflucht, Steuerhinterziehung und andere Delikte, dann wären wir
  • mit dem Arbeitslosenproblem, was Unternehmer vorsätzlich und mutwillig verursachen,
  • mit der Sicherung der Sozialsysteme und
  • der Verwirklichung des Menschenrechts auf Arbeit
schon längst weiter.
Da wir aber eine Diktatur des Kapitals haben, schaufeln sich diese Schlerimscheißerpolitiker bürgerlicher Großkotzparteien von CDU/CSU/FDP/BündnisGrüne/SPD und das Unternehmerpack ihr eigenes Grab.
Hartz IV führt zur sozialen Selektion, zur Verelendung des Volkes, zur Konzentration von Macht und Einfluß in die Hände weniger Müßiggänger.

Pinnswin

:D Spieß umdrehen, aber gerne doch:

Mit ,,ge-geltem Pomadehaar" oder ,,geföhnter Zöpfchenfrisur" (lach mich grad weg) unauffällig dem Fallmanager folgen und aushorchen, wo der denn sein ,,Schwein durch s Dorf,, treibt. Anonyme Beschuldigungen bei der Tagespresse sind auch erlaubt, ebenso anonyme Anzeigen beim Finanzamt.

Die Aussagekraft eines ,,Klappschlüssels" an einem Schlüsselbrett macht mich dann aber doch stutzig, was iss n des, und vor allen Dingen – haste den Schlüssel, haste auch gleich ein Auto? Cool, dann kann´ s nicht in Polen gewesen sein, die machen das auch ohne Schlüssel.

Lg
Das Ende Der Welt brach Anno Domini 1420 doch nicht herein.
Obwohl vieles darauf hin deutete, das es kaeme... A. Sapkowski

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