Der Avantgarde läuft niemand hinterher

Begonnen von Kuddel, 20:25:43 Di. 24.Mai 2022

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Kuddel

Die Linke hält sich für verdammt wichtig und verkackt wieder und wieder.

ZitatDie revolutionäre Linke verschläft die Preisexplosionen, den Krieg und den G7-Gipfel?!

Weder in der Corona-Pandemie, bei den seit Monaten anhaltenden Preisexplosionen, noch beim zwischenimperialistischen Krieg in der Ukraine, geschweige denn bei zwischenzeitlich aufkommenden sozialen Bewegungen, welche immer wieder schnell von rechten Kräften vereinnahmt wurden, hat die revolutionäre und kommunistische Bewegung in Deutschland es in den letzten Jahren geschafft in wichtigen politischen Themen zu intervenieren oder gar eine führende Rolle einzunehmen. Ein Diskussionsbeitrag
https://perspektive-online.net/2022/05/die-revolutionaere-linke-verschlaeft-die-preisexplosionen-den-krieg-und-den-g7-gipfel/

BGS

Es ist schon widersinnig, dabei gibt es so viele Punkte, wo man ansetzen könnte. Wo bleibt der geschlossene Widerstand?!

MfG

BGS
"Ceterum censeo, Berolinensis esse delendam"

https://forum.chefduzen.de/index.php/topic,21713.1020.html#lastPost
(:DAS SINKENDE SCHIFF DEUTSCHLAND ENDGÜLTIG VERLASSEN!)

dagobert

Im Kern ist das wieder das alte Problem:
Die Linke führt Diskussionen über Luxusprobleme und verliert dabei die wirklich drängenden Fragen aus dem Blick.
"Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden."
Thomas Mann, 1936

Kuddel

Naja, hier im Forum wird ja so gern das "Gendern" als Problem angesehen.
Mir geht es eher am Arsch vorbei. Ich halte es aber nicht für ein Problem. Es ist ja Tatsache, daß hier weiter ein patriachales System herrscht, Männer und Frauen unterschiedlich bezahlt werden.  Es gibt diskriminierungen wg, Geschlecht, sexueller Ausrichtung und so weiter. Nazis drangsalieren, bedrohen und erschlagen Menschen, die irgendwelchen Minderheiten angehören.

Es ist also völlig berechtigt, sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Man kann auch Sprache als Machtinstrument sehen und an einer Veränderung der Sprache arbeiten. Von mir aus ist das alles ok.

Bernd Lucke, der Schwachkopp, der einst die AfD gegründet hat, und danm rausgedrängt wurde, hat mit seiner neuen Partei LKR sich nun das Thema "Gendern" af die Fahnen geschrieben.


Ich sehe aber in den "Identitätslinken" (oder wie immer man sie nennen mag) ein anderes Problem. Sie haben sich in den neoliberalen Zeiten ein wenig Bildung erkämpft und den Konkurrenzkampf des Bildungssystems verinnerlicht. Sie schauen herab auf diejenigen, die nicht auf dem gleichen Bildungslevel stehen. Wer diese ganzen bescheuerten Modeworte linker Diskurse nicht versteht, ist ausgegrenzt und gehört einfach nicht dazu. Man zeigt diesen Leuten, daß sie dumm sind und vielleicht unterstellt man ihnen auch, rechts zu sein.

Wenn Leute mit wenig Bildung und großen anderen Sorgen auf linke Schlaumeier stoßen, deren Sprache sie nicht verstehen, reagieren sie gern mit absichtlich politisch grob inkorrekten Sprüchen, so wird man die linken Spinner am besten los. Und die linken Spinner fühlen sich bestätigt in ihrer Vermutung, daß es eh alles verkappte Nazis sind. So vertreiben Linke die Menschen, die Mitstreiter werden sollten.

Ach, letztendlich haben sich diese Linken ein wenig Bildung angeeignet, sind aber ökonomisch trotzdem am Arsch. Man zieht sich in die Gruppe Gleichgesinnter zurück. Ich unterstelle einem Teil dieser Leute eine Verachtung für Prolls, zu denen man nicht gehören möchte.

Spätestens dann ist alles hinüber und aus einer solchen Position wird auch eine gut gemeinte Politik niemals links sein.

In dieser Gesellschaft konzentrieren sich Reichtum und Macht bei einigen Wenigen. Ihnen gegenüber steht eine Mehrheit, die nicht viel oder nichts hat. Diese Mehrheit im Kampf zu einen wäre ein schönes Ziel. Spaltungen nach Bildung, Kultur etc. haben wir mehr als genug.


Tiefrot

So wirklich nachvollziehen kann ich den Genderhype nicht.
Erst wenn Frauen auf dem Bau arbeiten, an der Drehbank stehen
oder auf dem LKW fahren bei gleicher Bezahlung und das alltäglich ist,
können wir nochmal drüber reden. Aber dann wäre die Genderei ohnehin überflüssig.
Denke dran: Arbeiten gehen ist ein Deal !
Seht in den Lohnspiegel, und geht nicht drunter !

Wie bekommt man Milllionen von Deutschen zum Protest auf die Straße ?
Verbietet die BILD und schaltet Facebook ab !

counselor

Im Moment haben wir die eigentümliche Situation, dass die da oben gar nicht mehr so richtig wissen, wie sie das kapitalistische Krisenchaos bewältigen sollen und die da unten das Krisenchaos aber noch mitmachen wollen (was sich aber im Fall einer sprunghaften Verschlechterung der sozialen Verhältnisse schnell ändern kann).
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Kuddel

Zitateigentümliche Situation

Schön ausgedrückt.

Ich glaube, es wurde von der akademischen Linken der Konkurrenzkampf an den Unis verinnerlicht. Man will selbst ganz vorn sein, wenn es um die neuesten Trends in linken Debatte geht und man grenzt diejenigen aus, die bei dem Wettlauf um die trendigsten Themen und gerade angesagten Begriffe nicht mithalten können.

Die Leute jenseits des akademischen und links-subkulturellen Millieus hat man nicht auf den Zettel.

Es ist schon absurd, wie diese linke Szene sich bei Sprach- und Modecodes verausgabt. Bei Fridays for Future und auch bei Auftritten in Bern und Zürich, wurde es zu einem politischen Problem, wenn weiße Musiker Dreadlocks tragen. Das ist so dämlich, sowas kann man sich gar nicht ausdenken.

Eine solche Linke wird keinen Betrag zu einer gesellschaftlichen Veränderung leisten.

Eine Veränderung liegt in den Händen derjenigen, die unter den sozialen Angriffen am meisten leiden, und die die Linke mit Nichtbeachtung oder Verachtung straft.

Kuddel

Zitat von: counselor am 23:17:52 Fr. 17.Juni 2022
was sich aber im Fall einer sprunghaften Verschlechterung der sozialen Verhältnisse schnell ändern kann

Da ist für mich UK ein beeindruckendes Beispiel.
Es gab in Britannien, insbesondere in den 70er Jahren, eine mächtige und militante Arbeiterbewegung, die mit ihren Kämpfen mehrmals die Regierung gestürzt hat. Sie wurde Mitte der 80er von Thatcher zerschlagen. New Labour und Tony Blair (Vorbild für Gerhard Schröder) haben ihr den Rest gegeben.

Das Dauerfeuer der Scheißdreckmedien (da ist die BILD noch harmlos gegen), sowie der Asozialen Medien und die Konzentration auf den Parlamentarismus, haben das Bewußtsein der einfachen Menschen völlig zerschossen. Selbst prekäre und migrantische Malocher:innen haben den rechtspopulistischen Boris Johnson gewählt.

Die momentane Streikwelle scheint alles auf den Kopf zu stellen. Es schließen sich Menschen dem Kampf an, die sich noch nie politisch bewegt haben. Die Forderungen haben Hand und Fuß übertreffen alles, was in den letzten Jahren von links kam. Die Klasse politisiert sich gerade selbst, wobei die Labour Party und die Linke weitgehend außen vor bleiben.

Kuddel

Ich halte dieses ausgrenzende Gehabe für ein großes Problem.
Ein Bewegung wird nie wachsen, wenn man anderen nicht die Möglichkeit gibt, sich anzuschließen. Man muß Menschen auch die Chance geben dazuzulernen und sich zu ändern.

Mir fällt ein schönes Beispiel vom Britischen Bergarbeiterstreik 1984/85 ein.

Die Bergarbeiter mögen zwar kämpferisch und militant gewesn sein, doch in ihrer Alltagskultur waren sie ziemlich sexistisch, homophob und rassistisch.

Wenn Linke ihnen mit erhobenem Zeigefinger genau das vorgeworfen hätten, hätten die "Miners" dichtgemacht und die Linken als Spinner oder als Gegner gesehen.

Es kam aber anders. Lesben- und Schwulengruppen sahen, wie die Thatcherregierung mit den Streikenden umging. Sie sagten sich, "die werden genauso unterdrückt und von den Bullen verprügelt wie wir. Wir müssen ihnen helfen." Sie gingen dann mit eigenen Transparen auf die Demos der Streikenden.



Die Bergarbeiter trauten ihren Augen nicht, als Liefewagen vorfuhren mit Lebensmittelspenden. Die wurden in den indisch-pakistanischen Communites gesammelt und bärtige Typen mit Turban brachten sie in die Bergarbeiterdörfer.

Zuguterletzt müssen auch die Womens Support Groups erwähnt werden. Die Frauen der Bergarbeiter wollten in dieser Auseindersetzung nicht untätig bleiben. Zuerst organisierten sie Suppenküchen vür die Miners, die Thatscher aushungern wollte. Ihnen kam nach und nach eine wichtige Rolle in diesem Streik zu, sie übernahmen einen Teil der Streikführung und die Organisierung des Streikalltags.

All diese Dinge krempelten die Vorurteile in der konservativen Bergarbeiterkultur um. Sie waren gezungen, ihr Weltbild zu ändern.

Das schwebt mir auch für den Umgang mit "Normalos" in der deutschen Gesellschaft vor. Viele von ihnen haben jede Menge Mist im Kopp und reden Müll. Wenn man ihnen deshalb nur blöd kommt und sie anpöbelt, verfestigt sich das nur. Sie finden dann erst recht Linke und Antifas blöd und sehen sie als ihre Feinde.

Wenn man ihen aber in Konfliktsituationen (mit Arbeitgebern, Vermietern oder dem Staat) zur Hilfe kommt, werden auch Linke und linke Ideen anerkannt.

Kuddel

Ich sehe, daß alles mögliche in Bewegung kommt aber nicht unbedingt so, wie wir hoffen. Es war in den Corona-Lockdownzeiten, in denen Zigtausende auf die Straße gingen, weil sie alles mögliche fürchteten, ihre ökonomische Zukunft, ihre Gesundheit, einen zunehmend autoritärer werdenden Staat. Faschos und rechte Strategen mischten sich unter die Menge und stellten sich in einigen Regionen an die Spitze dieser Bewegung.

Zu schnell vergessen wurde der Protest der Kulturschaffenden zu Coronazeiten. Das war super, die haben sich an Masken- und Abstandsgebot gehalten und sich klipp und klar von Faschos distanziert. Es war sozial ein heterogener Haufen, von der Tresenkraft über Stagehands bis zu Konzertagenturen und Festivalbetreibern. Es funktionierte irgendwie, auch wenn der Klassenstandpunkt unscharf war.

Und dann mit dem Gasboykott gegen Rußland gingen in Ostdeutschland Handwerker, bzw. Handwerksmeister auf die Straße. Große, beeindruckende Demos. Anfänglich waren deren Forderungen nicht schlecht, doch es scheinen die Faschos dort zunehmend eine Rolle zu spielen und auch Einfluß auf Forderungen und Parolen zu nehmen.

Warum gelingt es uns als Linken nicht? Natürlich haben wir es mit Millieus zu tun, die in mancher Beziehung schwierig sein können. Aber letztendlich hängt es davon ab, auf welche Seite das Pendel ausschlägt, oder auf welcher Seite die Menschen sich zusammenfinden.

Zur Zeit sieht es so aus, als wenn die Faschos da einfach flexibler und frecher sind und siegreich an uns vorbeiziehen. Wir mögen zwar inhaltlich Recht haben, doch sie nehmen die Menschen mit, weil sie einfach da sind, weil sie laut und kämpferisch auftreten.

Wir dürfen all die Menschen jenseits der linken Szene nicht als Gegner sehen und behandeln, wenn sie ein völlig anderen Lebensstil haben oder irgendwelchen Mist reden. Wir werden alle bedroht von den Interessen der Herrschenden Klasse, von den Entwicklungen dieses Wirtschaftssystems.

Wir müssen uns irgendwie zusammenraufen mit Millieus, die nun so gar nicht politisch korrekt oder unserem Lebensstil ähnlich sind. Die einen sind zu prollig in ihrem Auftreten, sind nicht frei von sexistischem und rassistischem Vokabular, die anderen sind Kleingewerbetreibende und halten sich für Kapitalisten und dann all die Alternativen Mittelschichtsmenschen, leicht esoterisch, die nichts von Klassenverhältnissen wissen wollen. Das sind wahrlich problematische Gruppen, aber wir sollten ihnen nicht die Faschoszene als einzigen Ausweg aus ihrer Misere lassen...

counselor

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counselor

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