Arbeitslos in UK

Begonnen von Kuddel, 19:06:47 Fr. 31.Oktober 2003

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Kuddel

aus der Schweizer WOZ-online vom 30.10.03

Interessant ist das Beispiel deshalb, weil in Britannien neue Arbeitsmarktkonzepte ausprobiert werden und wenn sie denn "erfolgreich" sind, werden sie bei uns eingeführt.

Deutsche Politiker reisen gerne nach England, um anchließend hier zu verkünden, daß alles bei uns anders werden muß.

Hier schonmal ein Eindruck von dem, was uns erwartet:
(Übrigens: ein Franken ist etwas über ne Mark)







Sozialpolitik in Britannien

 
Moderne Kopfgeldjäger
 

Von Gerhard Klas, Brighton


 Auch mit der Arbeitslosigkeit können Geschäfte gemacht werden. Das zeigt das Beispiel einer Public Private Partnership in Brighton. Deren «Klienten», die Erwerbslosen, sind allerdings nicht begeistert.

Wer im britischen Seebad Brighton lange Zeit ohne Arbeit ist, kennt das Gebäude: ein Bürokomplex, mehrere Stockwerke hoch, gelegen an der viel befahrenen North Street. In der zweiten Etage sind die Räume von Working Links. Marc Jeffreys ist schon lange arbeitslos. Anfangs musste sich der 32-jährige Brite alle zwei Wochen beim Arbeitsamt in Brighton melden, um wöchentlich die 106 Pfund (umgerechnet 240 Franken) der gesetzlichen Arbeitslosenunterstützung beziehen zu können. Als er auch nach achtzehn Monaten keinen Job gefunden hatte, schickte ihn das staatliche Arbeitsamt zu Working Links. Working Links ist ein Unternehmen im Rahmen der Public Private Partnership (PPP). Es besteht aus Manpower, der weltweit grössten Zeitarbeitvermittlungsagentur, aus der Beratungsfirma Cap Gemini Ernest & Young sowie aus Job Centre Plus, einer Unterabteilung des britischen Arbeitsministeriums.
Als Jeffreys das erste Mal bei Working Links vorsprach, erklärte er seiner Beraterin, dass er sich für alte Sprachen interessiere, dass er Latein und Altgriechisch beherrsche und auch noch Hebräisch lernen wolle. Er hatte als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Forschungsinstitut sowie als Übersetzer gearbeitet und hofft noch immer auf einen Job in dieser Branche. Working Links spielt in Brighton seit Eröffnung der Niederlassung vor drei Jahren eine herausragende Rolle auf dem Arbeitsmarkt. Denn die Regierung hat Brighton und die Nachbarstadt Hove zur Beschäftigungszone erklärt: Hier gibt es besonders viele Langzeitarbeitslose, hier werden wie in vierzehn anderen Employment Zones Britanniens neue Konzepte ausprobiert, solche wie die Public Private Partnership mit Working Links.
Sandra Moore, die Leiterin von Working Links in Brighton, will Arbeitslose wie Marc Jeffreys unterstützen. «Wir behandeln jeden als Individuum», sagt sie, «uns interessieren die langfristigen Ziele und wir wünschen unseren Klienten, dass sie diese auch erreichen. Wir tun alles, damit sich ihre Träume erfüllen.» Jeffreys Erfahrungen mit Working Links gehen in eine andere Richtung. «Du musst nach Jobs suchen, die du auch kriegen kannst», sei ihm gesagt worden, und auch, dass er sowieso nicht die Arbeit finden würde, die er suche. Ergebnis seiner Besuche bei Working Links: «Sie erklärten mir, ich solle mich auf Billiglohnjobs bewerben.»
Billiglohnjobs hat es in Brighton reichlich. In dem Seebad an der Südküste Englands boomt der Dienstleistungssektor. Es gibt unzählige Stellen bei Reinigungsfirmen, in Call-Centern, im Hotel- und Gaststättengewerbe, bei privaten Sicherheitsdiensten, in kleinen Läden und Supermärkten, von denen viele 24 Stunden am Tag geöffnet haben. Jede Arbeit, die mehr als 16 Wochenstunden umfasst, gilt per Gesetz als Vollzeitarbeit. Dann erlischt die Berechtigung auf die Arbeitslosenunterstützung in Britannien. Für jeden Arbeitslosen, der einen solchen Job annimmt, bekommt Working Links eine Kopfprämie vom Arbeitsministerium, auch dann, wenn Langzeitarbeitslose ein eigenes Unternehmen gründen, meistens als Taxifahrer oder im Einzelhandel.

Stundenlohn: knapp zehn Franken
675 Franken bekommt die halb private, halb öffentliche PPP-Agentur vom Arbeitsministerium als Verwaltungsgebühr, wenn sich Erwerbslose erstmals bei ihr melden. «Wenn es uns gelungen ist, sie für mindestens dreizehn Wochen in eine Vollzeitstelle zu vermitteln, gibt es weitere 5600 bis 6700 Franken vom Ministerium», sagt Sandra Moore, die über die Zeitarbeitsfirma Manpower zu Working Links gekommen ist und vorher als Fotomodell und Choreografin gearbeitet hat. Und das ist noch nicht alles: Wenn eine erwerbslose Person länger als drei Monate von Working Links betreut wird, erhält die Agentur knapp 3000 Franken, von denen sie die Arbeitslosenunterstützung bezahlen soll. Findet eine Vermittlung schon im vierten Monat statt, darf das Unternehmen den Rest des Geldes behalten und bekommt dazu noch weitere 900 Franken für die erfolgreiche Vermittlung.
«Das ist eine gewaltige Summe - bis zu 11000 Franken für jeden, der aus der Arbeitslosenunterstützung fliegt», hat Marc Jeffreys errechnet. Die Einnahmen spiegeln sich in den Gewinnen wider. Bereits im ersten Geschäftsjahr konnte Working Links 1,1 Millionen Franken Reingewinn erwirtschaften - ein bemerkenswerter Betrag, wenn man bedenkt, dass die meisten Unternehmen in ihren ersten Geschäftsjahren normalerweise Schulden anhäufen. «Unsere Aktionäre freuen sich», verkündete denn auch der Vorstandsvorsitzende William Smith beim ersten Aktionärstreffen, «wir haben eine Situation, in der wir nur gewinnen können.» Jeffreys nennt das eine Lizenz zum Gelddrucken. «Diese Geldmacherei steht im krassen Gegensatz zu den Löhnen, die in den Jobs gezahlt werden, die Working Links vermittelt.»
Zum Beispiel in der Supermarktkette Safeways. Marc Jeffreys hat von ihr einen Job angeboten bekommen, zum gesetzlich festgeschriebenen Mindestlohn von Fr. 9.45 die Stunde. Jeffreys weiss, dass ExpertInnen das Existenzminimum bei vierzehn Franken ansetzen. Für ihn bedeutet das: Wenn er Vollzeit arbeitet, verdient er kaum mehr, als wenn er arbeitslos bleibt oder einen Teilzeitjob mit weniger als 16 Stunden die Woche annimmt. Denn Sozialleistungen wie Miet- und Fahrtzuschüsse werden ihm bei einer Vollbeschäftigung gekürzt oder ganz gestrichen. Lehnt er einen solchen Job aber ab, droht ihm der völlige Entzug der Arbeitslosenunterstützung.

Formulare statt Lara Croft
Marc Jeffreys hat so schlechte Erfahrungen mit Working Links gemacht, dass er regelmässig das Arbeitslosenzentrum besucht, um sich dort beraten zu lassen. Manchmal kann er dort auch anderen, die ihren ersten Besuch bei Working Links gerade hinter sich haben, mit Tipps weiterhelfen. In Brighton gibt es zwei Arbeitslosenzentren. Damit ist das Seebad besser dran als London - dort haben inzwischen sämtliche Zentren zugemacht, weil die dafür zuständigen Gemeinden auf dem Londoner Stadtgebiet (Londons linker Bürgermeister Ken Livingstone hat hier keine Kompetenz) sämtlichen Treffs die Unterstützung strichen.
Das Unemployed Workers - Centre, eines der beiden Zentren, liegt in Hollingdean, einem Arbeiterquartier am Stadtrand von Brighton, in dem mehr Arbeitslose leben als in den anderen Vierteln der Stadt. Deshalb haben hier mehrere Arbeitslosengruppen vor vier Jahren ein neues Zentrum eröffnet. Finanziert wird es von einigen lokalen Gewerkschaften, von Lotteriegeldern und Spenden. Es kann sich nur eine bezahlte Halbzeitkraft leisten, Shanty Haft, die von einem knappen Dutzend ehrenamtlicher HelferInnen unterstützt wird.
Im Schaufenster des Zentrums hängen Plakate und Zeitungsausschnitte zu den Themen Erwerbslosigkeit, Rassismus und Krieg. Ein Schild sticht besonders ins Auge: «more Party, less Labour», heisst der doppelsinnige Spruch: «mehr Feiern, weniger Arbeiten» beziehungsweise mehr Parteinahme und Zusammenhalt, aber weniger von jener Labour-Partei, mit deren Arbeitsmarktpolitik sich die meisten hier herumschlagen müssen. Im vorderen Raum steht eine Kühltheke. Weil es im Stadtteil keine günstige Einkaufsmöglichkeit gibt, werden hier auch Früchte, Gemüse und Milch angeboten. Altes Brot gibt es sogar umsonst, eine Spende der Bäckerei in Hollingdean, die die Ware vom Vortag gratis liefert. Tony Greenstein, einer der ehrenamtlichen Helfer, streitet mit ein paar Schulkindern. Sie sollen endlich die fünf Computer freigeben, die eigentlich für die BesucherInnen vorgesehen sind, die ihre Briefe an Behörden schreiben, recherchieren oder ihre elektronische Post erledigen wollen. Die Kinder und Jugendlichen spielen «Lara Croft». Besonders in den Schulferien strömen sie herein. In Hollingdean gibt es sonst nicht viele Computer.«Ich war selber lange Zeit arbeitslos», sagt Shanty Haft. «Es macht mich wütend, wie die Rechte der Leute zusammengestutzt werden.» Die meisten BesucherInnen plagen grosse Schwierigkeiten. Sie haben Schulden, müssen sich mit den Ämtern herumschlagen oder verstehen die komplizierten Formulare nicht. «In Britannien gibt es viele Analphabeten», sagt Shanty Haft, «die Leute verstehen nicht immer, was ihnen mit der Post geschickt wird.» Meistens reicht es aus, den Erwerbslosen den Sachverhalt zu erklären, manchmal schreiben Haft und ihre MitarbeiterInnen auch Briefe und Bewerbungen.
Shanty sei seine grosse Hilfe, sagt Barry Miller. Er ist 48 Jahre alt, lebt in Hollingdean und kommt täglich ins Arbeitslosenzentrum. Als Sohn eines Feuerwehrmanns und einer Gelegenheitsarbeiterin hatte er keine Chance auf eine gute Ausbildung. Früher arbeitete Miller öfter auf Baustellen, heute kann er das nicht mehr: Er leidet unter Osteosklerose, seine Knochen sind spröde, die Gefahr eines Knochenbruchs, selbst bei normalerweise harmlosen Unfällen, ist gross.

Beratung vom Feind
«Ohne Qualifikation stehe ich ganz unten auf der Leiter», sagt Miller, «und es gibt viele wie mich.» Auch er musste nach achtzehn Monaten Arbeitslosigkeit bei Working Links vorsprechen. «Die Beraterin hat mir drei Reinigungsjobs angeboten, es ging ums Putzen von Neubauten. Ich habe sie nicht direkt abgelehnt, sondern die Formulare mit nach Hause genommen und dort in den Mülleimer geworfen.» Am nächsten Tag sei er zum Arzt gegangen, der ihn für diese Tätigkeiten krankschrieb. Mit dieser Bescheinigung marschierte er wieder zu Working Links. Doch die Beraterin habe ihm nur gedroht. «Die Frau sagte zu mir: Du kannst rennen, du kannst springen, aber du wirst dich nicht ewig vor mir verstecken können.»
Barry Miller geht mit solchen Erfahrungen selbstbewusst um. Nicklas White, seinem Bekannten aus dem Arbeitslosenzentrum, gelingt das nicht. Den jungen Mann mit einem Hochschulabschluss in Informationstechnologie hat die demütigende Behandlung, die er bei Working Links erlebte, tief getroffen. «Beim Gespräch standen der Berater und ich einander wie Feinde gegenüber», erzählt er. Danach hat er weitere Treffen abgelehnt und wurde mit Entzug der Arbeitslosenunterstützung bestraft. Da ihn ein Arzt anschliessend arbeitsunfähig schrieb, bezieht Nicklas White jetzt Krankengeld. Der Informatiker nimmt heute starke Antidepressiva. «Ich kenne viele, die ebenfalls Psychopharmaka schlucken», sagt er. Das sei kein Wunder. «Wer es jede Woche mit einem ausgesprochen feindlich gesinnten Berater zu tun hat, verliert jedes Selbstwertgefühl. Uns wird doch immer nur gesagt, dass wir deren Spiel mitspielen müssten und dass dies nun einmal zu den gesellschaftlichen Regeln gehöre.» Auch unter Druck stehen die Berater auf der andern Seite. Sie müssen die Arbeitslosen unterbringen - sonst gibts weniger Geld für Working Links.

Mit Gewinn ins Ausland
In Britannien beziehen mittlerweile drei Millionen Menschen Krankengeld oder Arbeitsunfähigkeitsrente. Für die Labour-Regierung gehören sie damit in die Rubrik «economically inactive», also zu den «wirtschaftlich Untätigen». Deren Zahl will die Regierung mit einem New Deal reduzieren: Das Gesetzespaket für Kranke und Behinderte sieht unter anderem einen Pflichttermin vor, bei dem die Arbeitsfähigkeit der LeistungsbezieherInnen ausgelotet werden soll. Bei Nichterscheinen droht Leistungsentzug.
Working Links sieht darin einen Marktsektor von grossem Potenzial, wie der letzte Geschäftsbericht des PPP-Unternehmens vermerkt. Das vergangene Jahr war so erfolgreich, dass Working Links expandieren will. Gegenüber dem Vorjahr hat Working Links seinen Gewinn in den zehn strukturschwachen Gebieten Britanniens auf 5,6 Millionen Franken verfünffacht. 85 Prozent der vermittelten Erwerbslosen bleiben länger als drei Monate in ihrem Job, heisst es im Geschäftsbericht. Doch was passiert dann? Dazu fehlen die Angaben. Sie sind für den Umsatz auch nicht interessant, denn die maximale Berechnungszeit für das Kopfgeld vom Arbeitsministerium beträgt nur drei Monate.
Nun will die Geschäftsführung auch in anderen Bereichen der Arbeitsmarktverwaltung und Arbeitsvermittlung tätig werden, etwa bei Alleinerziehenden, Kranken und Behinderten. Man denkt sogar an die Ausweitung des Angebots über die Landesgrenzen hinaus. Zahlreiche Anfragen aus dem Ausland haben Working Links dazu bewogen, auch dort nach Geschäftspartnern zu suchen. Ein guter Leumund ist ihnen sicher: Working Links und andere Unternehmen des privaten Sektors «erzielen beeindruckende Erfolge und sind bei den Anspruchsberechtigten sehr beliebt», schrieb vor kurzem die Regierung von Premierminister Tony Blair.

DeppVomDienst

Ein sehr aufschlussreicher Artikel; allerdings glaube ich, dass die Situation in Deutschland den englischen Verhältnissen schon recht nahe kommt, wenn man sich auch mal einige Posts z.B. im Forum Leiharbeit anschaut.
Erstaunlich allerdings tatsächlich, wie offen zynisch und nihilistisch solche modernen Reichsarbeitsdienste, denen aus den angeblich leeren öffentlichen Kassen das Geld in den Rachen geschaufelt wird, in England auftreten können. In Deutschland versucht man dagegen noch den Schein zu wahren und die materielle Bereicherung einer kleinen Minderheit auf Kosten der Mehrheit mit angeblichen Sachzwängen zu begründen. Wohl weil hier Parteien an der Macht sind, die sich gestern noch moralisch völlig entrüstet hätten gegen eine Politik, die sie heute betreiben
.... hmm, jetzt hatte ich aber glatt vergessen, dass in England "Labour" regiert ...

P.S.: Auf der Homepage von "Working Links" ist als Presse-Echo ein einziger Artikel: aus dem deutschen Handelsblatt vom 22.5.2002. Der Artikel in der englischen Übersetzung fängt so an:
"Many plans, which are about to reform the German labour market are already a reality in GB. Those who really want to work are in a better position in GB [...]
 No help without any performance is the criteria. According to Nick Brown
[Arbeitsminister], there are many who just want to be on the dole and work illegally or enjoy an alternative lifestyle. But at the end he will get them all."

Zitatthere are many who just want to be on the dole and work illegally or enjoy an alternative lifestyle. But at the end he will get them all.


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