Betriebsintervention

Begonnen von Kuddel, 21:50:01 Do. 21.Juli 2011

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Kuddel

...Tausende linke Studierende sind in den frühen 70er Jahren in den Fabriken gegangen, um die Revolution zu beschleunigen. ,,Wir sind an den Universitäten an unsere Grenzen gestoßen und haben in den Betrieben ein wichtiges politisches Potential gesehen", beschrieb Peter Bach seinen Beweggrund, den Campus mit der Fabrik zu vertauschen. Kurz nachdem er bei Ford angestellte worden war, begann ein großer Streik, der vor allem von Kollegen aus der Türkei getragen wurde. Bach, der damals Maoist war, gehörte zu der Minderheit der deutschen Kollegen, die den Arbeitskampf von Anfang unterstützte...

http://de.indymedia.org/2011/07/311752.shtml

xyu

Buchbesprechung

Jan Ole Arps, Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren *
Morgenmuffel

Jan Ole Arps schrieb schon in der arranca! und im ak über »militante Untersuchung« und von StudentInnen, die in den 70er Jahren die revolutionäre Kraft in den Fabriken suchten. In seinem Anfang des Jahres erschienenen Buch beschreibt er AktivistInnen, die aufgrund ihrer marxistischen Gesellschaftsanalyse von der Uni in die Fabrik gegangen sind. »Ohne die Arbeiterklasse«, zitiert er eingangs einen von ihnen, »hatten wir keine Chance, die Welt zu verändern«. Arps interessiert sich auch für die Frage, wie die revolutionären Fabrikinterventionen sich im Kontakt mit den Fabriken veränderten und wie sich andererseits der Alltag in den Fabriken durch die 68er-Revolte veränderte. Sowohl den maoistischen und spontaneistischen Strömungen – letztere heißen bei ihm auch operaistische oder »Wir-wollen-alles-Gruppen« – sei es um den Bruch mit den alten Arbeiterorganisiationen (spd; Gewerkschaften, kpen) und stattdessen um »Organisationsansätze im Proletariat« gegangen. Während aber die Maoisten auf das Modell der leninistischen Kaderpartei zurückgriffen (»Klassenbewusstsein erzeugen«), setzten die Spontis auf Untersuchung der »Widersprüche im Arbeiterbewusstsein und den Dynamiken spontaner Kämpfe«. Trotz dieser Unterschiede seien beide Strömungen auf sehr ähnliche Probleme gestoßen, was den Reiz ausmache, beide gemeinsam zu behandeln (S.10).

Neben verschiedenen Broschüren und Büchern der Gruppen nutzt er sieben Interviews mit AktivistInnen als Quelle, fast alle davon haben vor ihrer Fabrikzeit studiert (S. 210). Daran wird nochmals die besondere Fragestellung des Buchs deutlich: Intervention von Studierenden/Studierten in Fabrikkämpfe. Alles außerhalb dieser Konstellation (Lehrlingsbewegung, Selbstorganisation von Arbeitern...) spielt keine Rolle, es ist bestenfalls historischer Rahmen. Das erste Kapitel behandelt die Vorgeschichte der Fabrikinterventionen: die Studentenbewegung rund um 1968 und ihr Übergang in dkp, Jusos (»langer Marsch«), Alternativbewegung, Rote Zellen und K-Gruppen. Ebenso geht er in diesem Kapitel auf die wirtschaftliche Entwicklung in der brd und die Septemberstreiks 1969 ein. Im zweiten Kapitel wird kurz auf den italienischen Operaismus als wichtigen Bezugspunkt der Wir-wollen-alles-Gruppen eingegangen und ausführlicher das Untersuchungspapier1 des Revolutionären Kampfs (rk) aus Frankfurt diskutiert. Der rk wird im Buch am ausführlichsten für die spontaneistischen Gruppen dargestellt. Aus dem Spektrum der maoistischen Parteien und Bünde wird hauptsächlich die kpd/ml herangezogen. Das dritte Kapitel beschreibt die verschiedenen Ansätze, wonach im vierten Kapitel dann die Krise dieser Versuche und im fünften die Neuorientierungen der AkivstInnen Thema sind.

Man merkt dem Text nicht mehr an, dass seine Grundlage eine Diplomarbeit war: Er ist erstaunlich unakademisch geschrieben. Wichtige Quellen werden trotzdem benannt, wenig Wissen vorausgesetzt, und der Wechsel der Ebenen von biografischen Berichten, historischen Entwicklungen und der Darstellung von Theorie und Praxis der Interventionen ergänzen sich gut. Die ersten Eindrücke beim Betreten der Fabrik und wie AktivistInnen dies erlebten, kommen ebenso schön zum Ausdruck, vor allem durch die Zitate. Auch dass es im Betrieb nicht nur »die Arbeit« gab, sondern auch einen renitenten Mikrokosmos: z.B. die »echte Subkultur« (S. 93) bei Ford in Köln. Allerdings kommt diese Seite der Betriebswirklichkeit durchweg zu kurz.

Es lohnt sich, das Buch zu lesen, gerade für Jüngere, die die ausgewerteten alten Texte wohl meist nicht kennen, da sie zu großen Teilen selbst antiquarisch nur schwer zu beschaffen sind. Für alle, die sich noch nicht mit dem behandelten Zeitraum beschäftigt haben, mögen die historischen Darstellungen einen Einstieg bieten. Doch was lässt sich aus dem Buch für heute lernen?
Zentralität von Arbeit / Fabrik

Arps fragt, woher das Interesse der Studierenden an Fabrikarbeitern kommt. Die Studenten hatten doch gerade gegen bürgerliche Zwänge protestiert – und nun wollen sie in die Fabriken? Er führt dazu vier Punkte an: (1) Obwohl seit den 60er Jahren die Gesamtzahl der in der Produktion Beschäftigten stagnierte, »musste die Fabrik noch als das Herz der Gesellschaft erscheinen«, da diese »der gesamten Gesellschaft den Rhythmus« vorgab. (2) Die Septemberstreiks hatten die Macht der Industriearbeiter gezeigt. (3) Junge ArbeiterInnen fühlten sich von den Studierendenprotesten angesprochen, es entstanden Lehrlingsbewegungen, Jugendzentren. (4) Auch das Beispiel Frankreich und das dortige Zusammenkommen von Studierenden und ArbeiterInnen machte Mut (S. 44f.).

Im letzten Kapitel kommt Arps darauf zurück, dass »die Arbeit ein zentrales Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist« (S. 216). Ein solches Statement ist für die deutsche radikale Linke schon als Fortschritt zu werten, zeigt aber auch, dass er keinen Begriff von Klassenkampf hat: Er betont einfach nochmal, dass es »die fordistischen Fabriken« nicht mehr gebe. Damit verwischt er die konkrete Widersprüchlichkeit von Klassenzusammensetzung sowohl damals wie heute: »Heute besteht die Frage revolutionärer Politik nicht mehr darin, wie man ›das Proletariat‹ zu einem einheitlichen antagonistischen Subjekt zusammenschweißen könnte, sondern ob und wo die heterogenen, dezentralen Kämpfe Verbindungen eingehen« (S.211). Zusammenschweißen war nie eine sinnvolle revolutionäre Strategie, da sie immer von einem Subjekt-Objekt Verhältnis von Partei und Klasse ausgeht. Wie die Kämpfe in einem revolutionären Prozess zusammenkommen und alle Lebensbereiche umgestaltet werden und ihre Getrenntheit überwunden werden kann, das war aber auch in »fordistischen« Zeiten die Frage!

Richtig ist, dass heutige Arbeitsverhältnisse andere sind als in den 70er Jahren. Zu ihrer Kennzeichnung reicht es aber nicht, das heutige Gesicht des Proletariats als »Selbstständige Programmierer, Leiharbeiter an der Supermarktkasse und befristet beschäftigte Call Center Agents« (S. 8) zu charakterisieren. Dass heute die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen, stimmt definitiv nicht für alle Arbeitssphären. Und dass die Arbeit »die Menschen heute nur noch selten auf ihr nacktes Arbeitsvermögen« reduziere, sondern Mitdenken und Kreativität verlange, reflektiert nicht, dass auch schon früher mitgedacht werden musste, dies für den Produktionsprozess schon wichtig war, bevor es von Kapitalseite aufgegriffen und systematisiert wurde. Dass es Chaos, das man ausnutzen könnte, nur in der »fordistischen Großfabrik« gegeben hätte, deckt sich nicht mit unseren Erfahrungen. Das kapitalistische Projekt oder: »Leitbild« von mehr Eigenverantwortung und mehr Individualität (»Ökonomisierung der Persönlichkeit« S. 203) verklärt Arps vorschnell zur (Arbeits-)Realität. Mit der Überschrift »Revolution« (S. 167) meint er die Computerisierung und dadurch Sprünge in der Produktivität – die so groß aber gar nicht waren wie z.B. die durchs Fließband (S. 169). Indem Arps mit dem Hinweis auf die partielle Deindustrialisierung in der brd die Fabrikarbeit als nicht mehr zentral abtut, kommt er gar nicht erst zu der Frage ihrer weiteren Untersuchung. Das Gerede von der Dienstleistungsgesellschaft verdeckt noch dazu die Perspektive auf die sich verändernden globalen Arbeitsteilungen, die sehr wohl etwas mit Fabrik zu tun haben – woher kommt denn fast alles, was wir als Waren kaufen? Für sein Argument »Postfordismus« und »Dienstleistungsgesellschaft« hat er Statistiken parat, die verfälschen, dass hinter dieser ganzen »Dienstleistung« massig industrielle Arbeit steckt. Und leider werden Versuche, neue Arbeitsverhältnisse zu untersuchen, wie Kolinko und die Call Center Offensive nicht einmal erwähnt – obwohl Arps selber an Untersuchungen in Callcentern beteiligt war.
Vermittlung von »Arbeitsalltag« und »Radikalität«

Das Ergebnis seiner Untersuchung ist ernüchternd: »Wer in der Geschichte des linken Fabrik-Experiments gute Beispiele für heutige politische Initiativen zu finden hofft, wird daher enttäuscht werden« (S. 211). Dies enttäuschende Resümee stand wohl schon von Anfang an fest, bereits in der Einleitung schreibt Arps: »Heute gibt es das Proletariat, an das sich die rebellierenden Studenten richteten, in dieser Form nicht mehr.« (S. 8). Arps macht sich am Ende seines Buchs erneut an die Frage nach einer möglichen Vermittlung von Arbeitsalltag und Radikalität und präsentiert Antworten von einem seiner Interviewpartner, Werner Imhof. Dieser weist darauf hin, dass die Arbeit Teil des Kapitals ist und daher »die Opposition der Lohnarbeit gegen das Kapital« nichts Neues bringen kann, solange sie sich innerhalb dieses Verhältnisses bewege (S. 216f). Eine Perspektive über Arbeit/Kapital hinaus ergibt sich für Imhof aus der Produzentenverantwortung2. Ziel ist für ihn dann folgerichtig »Selbstproduktion, Selbstorganisation« (S. 219). Arps gibt Imhof explizit in Bezug auf den ersten Punkt recht, führt aber nicht aus, was aus dieser Überlegung folgen könnte. Imhof landet bei einer Perspektive auf Arbeiterselbstverwaltung, die Arps nicht bemerkt oder nicht kritisieren will. Und er bemerkt nicht, dass gerade das Argument, dass die Arbeiterklasse innerhalb des Kapitals ist, Ausgangspunkt der Operaisten war: als Feind in seinem Innern kann sie es auch zerstören. An der Überlegung Imhofs sei problematisch, dass das Bewusstsein der Dreh- und Angelpunkt sei, es gebe aber noch die wichtige Seite der Beziehungen in der Arbeit: solidarische Beziehungen, die die »Logik der Konkurrenz unterlaufen« (S. 219). Arps überlegt also in Fortführung seiner Frage nach dem Verhältnis von Alltag und Radikalität, wie eigene soziale Beziehungen »zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung werden können«. Überraschenderweise bringt er als positives Beispiel, wie Organizer in kleinen Schritten vorgehen und ArbeiterInnen zusammenbringen (S. 221). Die Berufssituation und der Alltag der OrganizerInnen spielt dabei aber keine Rolle. Als Negativbeispiel bringt er die Praxis seiner Gruppe FelS, bei den Montagsdemos die HartzIV-Protestler (»Weg mit Hartz IV«) mit der radikaleren Parole (»Alles für alle«) übertönen zu wollen, anstatt zu hören, um was es den Leuten geht.
Untersuchung

Arps verwirft in seinem Resümee sowohl die demokratisch-zentralistische Partei wie auch den operaistischen Ansatz (S. 216). Beim ersten Punkt gehen wir problemlos mit, beim zweiten scheint er die Klärung über Möglichkeiten, aus dem frühen Operaismus zu lernen und Aspekte zu übernehmen, zu schnell abzubrechen, indem hier vom Ansatz der Wir-wollen-alles-Gruppen bloß »die ›autonomen Bedürfnisse‹« übrig bleiben, die »sich meist auf Orte jenseits der Arbeit richteten«. Das Interessante, nämlich die Untersuchung der »Arbeiterautonomie« gegen Kapital und Gewerkschaften, der verborgenen Kämpfe und Organisierungen, sowie die kollektive Analyse der Spaltungsmechanismen – alles Punkte, die Arps auch im Buch bringt – fallen in seinem Resümee raus. Seine zusammenfassende Darstellung des (frühen) Operaismus im Kapitel 2 ist auch schon dünn. Weder dessen Ausgangssituation (die Arbeiterklasse ist politisch isoliert; die alten Begriffe und Organisationsformen passen nicht mehr), noch der durchgehende politische Streit – durch die Untersuchungspraxis die Arbeiterbewegung erneuern oder auf die Autonomie der Klasse und Revolution setzen – wird deutlich (Arps tendiert in die erste Richtung, mit der modernen Variante Organizing; dazu später mehr.) Es wird auch nicht deutlich, dass den Gruppen in der brd diese lange Phase der Untersuchungspraxis und die Bereitschaft, sich mit den ArbeiterInnen auf eine Stufe zu stellen, fehlten. Dies hängt wohl auch mit einem in Teilen elitärer Dünkel zusammen, der später Vielen den Aufstieg auf der Gegenseite erlaubte. Alle Wir-wollen-alles-Gruppen orientierten sich an der Theorie von Lotta Continua und/oder an Potere Operaio, ohne deren Theorie/Praxis von Untersuchung ernsthaft anzugehen. In der begeisterten Orientierung an diesen Gruppen reflektierten sie nicht, dass diese sich zunehmend von der Untersuchungspraxis lösten und statt dessen neue revolutionäre Subjekte erfanden, sich auf die Organisierung leninistischer Parteien und/oder den bewaffneten Kampf orientierten. Die Perspektive der Untersuchung wäre gewesen, auf offene Fragen nicht gleich zu antworten, sondern die konkreten Arbeits- und Lebenssituationen und -prozesse kollektiv zu untersuchen.

Was führt bei Arps zum Déjà-vu, wenn er die Probleme mit der Untersuchungspraxis der Wildcat in den 80er Jahren »fast wie eine Neuauflage der Erfahrungen der Wir-wollen-alles-Gruppen« liest (S. 200)? Es ist einerseits das Auseinanderdriften der Diskussionen der politischen Gruppe und dem Arbeitsalltag, andererseits auch das »Versacken im Betrieb« in Form von Passivität und übervorsichtigem Agieren (S. 200, vgl. auch TheKla 8, S. 131). Das Resultat, dass nämlich einzelne sich von den politischen Ansprüchen überfordert sahen, die Perspektive verloren und sich zurückzogen, hatte Arps auch schon in Bezug auf die Fabrikinterventionen der maoistischen und spontaneistischen Gruppen/Parteien in den 70er Jahren beschrieben. Dies sind ernst zu nehmende Probleme – anstatt diese aber zu analysieren, z.B. in Hinblick auf überhöhte Erwartungen, benutzt er die Probleme als Argument gegen »Fabrikintervention«. Er übernimmt die These von der Arbeit im Betrieb als »schleichenden Anpassungsprozess« (S. 103). Die Operaisten haben aber gerade den Arbeitsprozess als täglichen Kleinkrieg und Renitenz entschlüsselt. Arps und seine ehemaligen Avantgarde-InterviewpartnerInnen verschlüsseln ihn wieder, weil sie auch (heute) nicht danach suchen. Auf S. 213 erklärt Arps den Rückzug vieler AktivistInnen damit, dass sich die betrieblichen Kämpfe nicht zu breiten sozialen Kämpfen entwickelt hätten, diese seien vielmehr an anderen Orten entstanden. Arps streift hier das Ende der Massenarbeiterrevolte in den Fabriken, allerdings ohne weiter nach den Gründen zu fragen. Und indem er betriebliche und soziale Kämpfe gegeneinander stellt, begreift er nicht die revolutionäre Potenz der damaligen Kämpfe; die »betrieblichen« Kämpfe waren soziale! Damit setzt er schon voraus, was damals als politischer Fehler entstand, nämlich die These vom »gesellschaftlichen Arbeiter«.
Gespräche

In diesem Zusammenhang kommt er zu einem Schluss, der endlich in eine weiter führende Richtung geht: »Das ist durchaus etwas, was Linke tun können und sollten: Möglichkeiten für Gespräche organisieren und eine neue Sprache suchen – vielleicht zuallererst über die eigenen Arbeitssituationen – Orte zu finden und zu schaffen, an denen sich eine Wut äußern kann« (S. 222).

Hier zeigt sich aber auch, was für ihn vom Untersuchungsansatz des Operaismus übrig bleibt: Gespräche. Überraschend dabei ist, dass er keinen Bezug auf die Diskussionen und Praxen seiner Gruppe FelS, in deren Zeitschrift arranca! er schon 2008 einen Ausschnitt aus seinem Buch veröffentlichte3 und die sich in den letzten Jahren immer wieder auf »Militante Untersuchung« bezieht und mit diesem Ansatz versucht zu arbeiten (Euromayday4 und Berlinale5, aktuell an einer Berliner Arge6. Diese Projekte zumindest gehen über einfache Gespräche hinaus.

Arps schlägt vor, mit den »Gesprächen« am eigenen Arbeitsplatz anzusetzen (S.222). Die Orientierung, Gespräche über die jeweiligen Arbeitssituationen zu führen ist ein Punkt, der der »radikalen Linken« zunehmend verloren gegangen war. Es bleibt jedoch flach, wenn es bei Gesprächen bleibt: Wie kann aus diesen gemeinsame Untersuchung/Aktion werden? Und warum sollte es heute nicht mehr sinnvoll sein, die persönliche, scheinbar private Entscheidung für einen Beruf oder das »zufällige« sich Wiederfinden in einem bestimmten Job politisch, d.h. kollektiv zu diskutieren? Angesichts der Spaltungen und Vereinzelung in vielen Bereichen könnte dies doch auch wieder eine Perspektive werden, oder?

Damit wird auch die Frage des eigenen Verhältnisses zur Klasse interessant: Arps scheint sich die Arbeiterklasse nur als Bündnispartner vorzustellen, er hat keine Vorstellung von dem eigenen Verhältnis zur Klasse, die er nur soziologisch fasst: »unterschiedliche Klassenzugehörigkeit« der StudentInnen und ArbeiterInnen (S. 102). Indem die Perspektive entweder privatistisch oder interventionistisch und damit immer »außerhalb« bleibt, gerät die eigene gesellschaftliche Position selber nicht in den Fokus. Folgerichtig scheint besonders am Ende seines Buchs immer wieder eine linksgewerkschaftliche Perspektive durch: Er zitiert Passagen aus einem Interview, das zeigt, wie beschränkt die Handlungsmöglichkeiten von Betriebsräten trotz bester Absichten real sind. Befremdlich, dass nach 230 Seiten Arps gerade aus diesem Interview seinen Schlussoptimismus zieht. Die Fabrikintervention nennt er an einer Stelle »das Experiment mit der Fabrik« (S. 8). Für all jene, für die der Gang in die Fabrik kein »Experiment« war, bleibt das Buch sowohl gegenüber der Lebensrealität der ArbeiterInnen in der Fabrik als auch der ehemaligen StudentInnen seltsam blutleer.
Fußnoten:

* Hamburg - Berlin März 2011 (Assoziation A) | 240 Seiten | 16 Euro

[1] Revolutionärer Kampf:  1. Untersuchung – Aktion – Organisation. 2. Zur politischen Einschätzung von Lohnkämpfen. Berlin 1971 (Merve).

[2] Imhof zit. bei Arps: »sich dessen bewusst zu werden, dass man für andere produziert, dass daraus eine Verantwortung entsteht und man aus dieser Verantwortung heraus die Produktion vernünftig regelt, sie vernünftigen Zielen unterstellt«, S. 218.

[3] Arps, Jan Ole, »Wer eine Sache nicht untersucht hat, hat kein Recht mitzureden (Mao)«, in: arranca! 39 (2008).

[4] Global AG, »Arbeiten und Arbeiten und Machen und Tun: Eine Selbstuntersuchung beim Berliner Mayday«, in: arranca!, 39 (2008)

[5] FelS, »Moderner Klassenkampf mit Fragebogen. Untersuchungen auf der Berlinale und dem Berliner Mayday«, in: arranca! 39 (2008)

[6] Fels AG Soziale Kämpfe (2010): Militante Untersuchung am Jobcenter Neukölln


aus: Wildcat 90, Sommer 2011, http://www.wildcat-www.de/wildcat/90/w90_bb_fruehschicht.html

Kuddel

ZitatPolitischer Aktivismus und Lohnarbeit
              
Über die Intervention in Betrieben und Fabriken wurde in der Linken besonders in den 70ger- und 80ger Jahren viel diskutiert. In der heutigen Linken spielt das Konzept im Betrieb politisch zu intervenieren keine große Rolle mehr. Politischer Aktivismus und Lohnarbeit. Intervenieren, strikt trennen oder lieber eigene Projekte aufbauen? Darüber diskutierten wir mit unseren drei Studiogästen. Hört rein...
       http://www.freie-radios.net/portal/streaming.php?id=56742
http://www.freie-radios.net/56742

Kuddel

Ich bekam diesen Link durch einen Mailverteiler.
Ich finde es gut, daß diese Themen wieder diskutiert werden. Aber die Diskussionsrunde fand ich nicht so pralle.
Altlinke, die ein Linkssein teilweise mit einem akademischen Hintergrund gleichsetzen...

Kuddel

Ich würde hier auch gern aktuelle und praktische Beispiele von Organisierungs- und Interventionsversuchen diskutieren.

Gerade die Organisierungsversuche im Bereich prekärer Arbeit sind bitter und verlaufen sicherlich nicht so, wie in linken Lehrbüchern beschrieben.
Die am unteren Rand der Gesellschaft gedemütigten Menschen sind oftmals gebrochen, innerlich kaputt, hirngewaschen und zu keiner kollektiven Gegenwehr bereit. Sie haben sich selbst mit ihrem Schicksal und Untergang abgefunden und reißen damit andere mit.

Diejenigen, die sich für eine Gegenwehr entschieden haben, erfahren den stärksten Gegenwind nicht von Bossen und Vorgesetzten oder den Organen des Staates, sondern von ihren eigenen Kollegen.

Eine Organisierung von Widerstand ist aber auch in den prekären Bereichen möglich und nötig. Man darf nicht erwarten, gleich die Mehrheit der dort Leidenden mitreißen zu können. Man muß sich ersteinmal mit kleinen Schritten, kleinen Aktionen und Minderheitenpositionen zufriedengeben. Man darf sich weder von Rückschlägen, noch von Angriffen aus dem eigenen Umfeld entmutigen lassen.

Ich würde mich über einen Erfahrungsaustausch hierüber freuen.

admin

Hierzu möchte ich aus einem Diskussionspapier zitieren, das ich heute erhielt:

ZitatPrekär Beschäftigte und Arbeitskampf
Die Wut und die Kampfbereitschaft von prekär Beschäftigten steigen. Das zeigt Neupack, das zeigen aktuell Amazon und Asklepios, das zeigen die Streiks im Sicherheitsgewerbe in Nordrhein Westfalen usw. Das ist eine neue und ermutigende Entwicklung. Die Chancen aber, einen Arbeitskampf auch zu gewinnen, sind bei prekär Beschäftigten deutlich schlechter. Das liegt an mindestens 4 Faktoren:


  • sie sind häufig leicht durch Streikbrecher ersetzbar
  • die Kapitalseite setzt stärker als früher und anderswo auf demütigende Niederlage als auf Kompromiss
  • ein großer Teil von ihnen hat mit Werkverträgen, Leiharbeit und Befristung einen unsicheren Status
  • die Belegschaften in prekär geprägten Betrieben sind stärker gespalten als anderswo.

Gewerkschaftlich beeinflussbar sind davon nur die beiden letzten Aufzählungspunkte.

  • Die Forderung nach einem Verbot von Werkverträgen, Leiharbeit und Befristungen muss zu einer zentralen politischen Losung gegen die Spaltung der Arbeiterbewegung und speziell für die Kampffähigkeit der prekär Beschäftigten werden.
  • Es ist eine wichtige Lehre aus dem Neupackstreik, dass man in der Vorbereitung des Arbeitskampfes nicht nur, wie es hier beispielhaft passiert ist, an der Überwindung der ,,nationalen" Spaltung der Kollegen in der Fertigung arbeiten muss, sondern bewusst auch die Kluft zu den Vorgesetzten und Angestellten angehen muss. Betriebsrat und Gewerkschaft müssen solche verbindenden Themen aufgreifen und so den Widerspruch auch dieser Gruppen zum Inhaber vertiefen und die Einheit der Belegschaft weiterentwickeln.

admin

Ich habe gerade Wolfgang Schaumberg kennengelernt, einen alten Haudegen alternativer Betriebspolitik.
Habe dann den Namen gegoogelt und ein schönes Interview gefunden:

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admin

Der 2. Teil des Interviews dürfte auch für Rappelkistenrebell interessant sein.
Wolfgang Schaumberg berichtet, daß Gewerkschaften zeitweise den Schulterschluß mit den Unternehmern suchen um echte Betriebsarbeit im Sinne der Kollegen unmöglich zu machen. Seine praktische Erfahrung führte auch dazu, den marxistisch-leninistischen Gruppen den Rücken zu kehren, denn die abgehobene Kritik von außen, die die konkrete Arbeit vor Ort nicht begriff, war wenig hilfreich.

! No longer available


Sehenswert!


Fritz Linow

Zitat von: admin am 16:49:17 Mi. 14.Oktober 2015
Seine praktische Erfahrung führte auch dazu, den marxistisch-leninistischen Gruppen den Rücken zu kehren, denn die abgehobene Kritik von außen, die die konkrete Arbeit vor Ort nicht begriff, war wenig hilfreich.

Diese abgehobene Kritik ist auf der Seite http://www.mao-projekt.de/ hervorragend dokumentiert. Da gibt es jede Menge Originaldokumente von den 50ern bis Mitte 80er mit Schwerpunkt auf den K-Gruppen der 70er. Entweder sie haben sich gegenseitig auf die Glocke gehauen oder sich am DGB abgerieben. Mit ellenlangen Texten, die den historisch materialistisch zwingend notwendigen Klassenstandpunkt beweisen sollten, haben sie niemanden hinter dem Ofen hervorgeholt. Aber das wollten die wohl auch gar nicht.
Auf jeden Fall ist das eine sehr gute Materialsammlung zu allen Oppositionen, die es halt so gab. Reinschauen lohnt sich, und sei es nur, um mal zu schauen, was an dem eigenen Wohnort so abging.

Kuddel

"Unsere Diskussion war eben, dass man von der Uni aus nicht die sozialen Veränderungen erreichen kann, sprich 'ne andere Produktionsweise, 'ne andere Gesellschaftsform, die uns vorschwebte, und dass wir insbesondere die Menschen erreichen mussten, die den Reichtum und die Macht der Kapitalistenklasse herstellten."

Dieses Videointerview mit Wolgang Schaumberg ist ein kleiner Einblick in die Dreharbeiten zu einem längeren Dokumentarfilm über die GoG, den Labournet TV gerade produziert:

http://de.labournet.tv/viel-zu-lernen-0

admin

Ich möchte hier eine unabhängie ArbeiterInnen-Initiative in Berlin vorstellen:

Critical Workers

Es sind zumeist migrantische Arbeiteraktivisten unterschiedlicher Herkunft, die sich in Berlin gewerkschaftsunabhängig organisieren.
Deshalb sind die Texte auf ihrer Website meist auf English.

ZitatWhat's Critical Workers?
Critical Workers is an activist platform based in Berlin dealing with workers struggles. We come for different political groups which have been challenging precarity, labor conditions and exploitation for many years. We offer free legal counselling regarding work issues, in presence of labour lawyers. Please feel free to ask us any question or come in our counselling hours.

About us:
We come for different political groups which have been challenging precarity, labor conditions and exploitation for many years. Now, we decided to join forces.

The economy of the growing city of Berlin feeds on underpaid and exploited labour. Many sectors, like gastronomy, cleaning services and construction, have been transformed by outsourcing and digital technologies. ...
https://criticalworkers.noblogs.org/about/


admin

Eine weitere Initiative aus dem chefduzen-Dunstkreis:

Die Arbeitsbedingungen in der Pflegeindustrie thematisieren:
Das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) ist mit 12.500 Mitarbeitern ist das UKSH der größte Arbeitgeber des Bundeslandes. Es wurde ein Blog zu dem Klinikum eingerichtet:

ZitatDer Gesundheitssektor wird in einen menschenverachtenden, knallharten Wirtschaftsbetrieb umgebaut. Wir können die Pläne duchkreuzen. Wir wollen nicht nur unsere Unzufriedenheit äußern, wir wollen andere Zustände in den Kliniken und der ganzen Branche. Wir müssen die Begriffe von "Krankheit" und "Gesundheit" kritisch hinterfragen, wir wollen einen grundlegend anderen Umgang mit der Pflege und wir wollen vernünftige Arbeitsbedingungen.

Wir wollen uns nicht vertrösten lassen. Wir suchen nach neuen Möglichkeiten, unsere Interessen durchzusetzen und wollen uns nicht auf traditionelle gewerkschaftliche Kampfformen beschränken. Wir wollen uns miteinander austauschen und sind offen für neue Ideen.  Deshalb haben wir uns zu einer offenen Plattform der Beschäftigten entschieden, unabhängig von Parteien und Gewerkschaften.
https://uksh-blog.netzwerkit.de/

Und nun gab es eine Veranstaltung für das UKSH Personal mit Erfahrungen aus den Kämpfen im Charité in Berlin:
https://uksh-blog.netzwerkit.de/2018/01/17/veranstaltung-in-kiel-am-4-2/

Beim folgenden chefduzen-Stammtisch bekamen wir Besuch aus dem UKSH. Mal sehen, ob es gelingt, unabhängige Strukturen aufzubauen. Wir sind da guter Dinge.

Kuddel

Erinnerungen an 1968:

Betriebsintervention, APO und Kampf auf der Straße:

ZitatDa sitzen die beiden alten Revolutionäre auf dem Sofa in einem Hattinger Reihenhäuschen. Gekämpft haben sie für eine Veränderung der Gesellschaft, für die Entmachtung des Kapitals, für andere Produktionsbedingungen und den Abriss verkrusteter Strukturen. Wolfgang Schaumberg nahm sich als linker Betriebsrat bei Opel die Arbeiterklasse vor...

,,Uns wurde klar, es reicht nicht, wenn wir nur in der Uni diskutieren, wir mussten in die Betriebe gehen", sagt Schaumberg. ,,Wenn wir eine antikapitalistische Gesellschaftsordnung etablieren wollten, brauchen wir insbesondere die Solidarität mit den Arbeitern." Und anstatt Lehrer zu werden und sich auf eine Beamtenlaufbahn zum Oberstudienrat vorzubereiten, wurde Schaumberg Lagerarbeiter und Betriebsrat bei Opel. Dort blieb er 30 Jahre lang.

In Bochum blockierte unterdessen Wolfgang Schaumberg die Straßenbahngleise aus Protest gegen die Fahrpreiserhöhung der Bogestra. ,,Wir forderten den Null-Tarif", sagt er. ,,Die Polizei räumte uns ab."

Einen Tag nach dem Anschlag auf Dutschke erlebte die Stadt Essen den Aufmarsch von Wasserwerfern, Polizeibussen und Demonstranten: Vor dem Springer-Druckhaus in der Sachsenstraße tobte eine regelrechte Straßenschlacht. Studenten, Schüler und Gewerkschafter waren aus ganz NRW nach Essen gereist, um die Auslieferung der Zeitungen ,,Bild" und ,,Welt" zu verhindern, die der Hamburger Verlag hier drucken ließ. Auch hier war Wolfgang Schaumberg dabei. Einige mit Zeitungen beladene Laster durchbrachen mit Hilfe der Polizei die Blockade, andere blieben stecken oder drehten ab. Die Demonstranten machten die Springer-Presse und ihre ,,Hetze" gegen die linken ,,Rädelsführer" für das Attentat auf Dutschke mitverantwortlich. Der zentrale Protest-Slogan lautete: ,,Enteignet Springer!"
https://www.waz.de/region/rhein-und-ruhr/als-rudi-dutschke-eine-rote-strampelhose-bekam-id213260661.html#

Fritz Linow

Daraus:
Hat sich der Einsatz also gelohnt? Hat sich ihr Kampf ausgezahlt? Schaumberg meint: ,,Als Betriebsrat bei Opel musste ich lernen, dass alles nicht so leicht war, wie wir dachten. Wir hatten das Management und die IG Metall zum Gegner. Und die Arbeiter hatten andere Sorgen, Familie, Häuschen, Kinder. Alles weit entfernt von unseren sozialistischen Parolen." Link ergänzt: ,,Wir haben nicht verstanden, dass die Arbeiter und das Volk so etwas wie eine Normalität des täglichen Lebens benötigen. Etwas Neues lässt sich nicht von heute auf morgen überstülpen."

Kuddel

ZitatWolfgang  Schaumberg  richtet  im  folgenden  Beitrag  den  Blick  auf  die  Wühlarbeit  in  der  Autoindustrie,
indem er die Arbeit der Bochumer Opel-Betriebsgruppe GoG, ihr langjähriges Handeln wie ihre theoretischen Bezüge, reflektiert


Die »großen« Streikaktionen 2000 und 2004 wären nie zustande gekommen, wenn wir
nicht vorher für zahllose kleinere mitmobilisiert hätten. Nur ein Beispiel: mehrfach
drangen um die 20 bis 50 KollegInnen während ihrer Pause in eine BR-Sitzung ein,
über die wir vorher informiert hatten, und verwickelten den BR  in heiße Debatten,
manchmal ein bisschen über die Pause hinaus, so dass der BR-Vorsitzende die Ge-
schäftsleitung darauf aufmerksam machen musste, dass die Bänder nicht sofort nach
der Pause wieder voll anlaufen konnten...

http://www.labournet.de/wp-content/uploads/2018/07/schaumberg_express0718.pdf

Kuddel

Zitat von: Rudolf Rocker am 19:56:44 Do. 14.März 2019
...
Ich erinnere mich gerade an ein Flyeraktion bei der ich zu einen Treffen eingeladen hatte aber die Frau mich immer lauter werdend alle 2-5 sek unterbrochen hatte "da kann man nichts machen, DA KANN MAN NICHTS MACHEN!, DA KANN MAN NICHTS MACHEN!
Aber wie kann man Klassenbewusstsein und Selbstvertrauen wieder aufbauen?

Bei solchen Leuten hab ich oftmals wenig Bock, weiter auf ihren selbstmitleidigen Scheiß einzugehen.
Dann reicht es bei mir nur für "Billige Rechtfertigung deiner Feigheit" bis "Geh kacken!".

Letztendlich geht es darum, Leute im Zusammenhang mit ihrer Arbeit zu erreichen. (Am besten natürlich bei den eigenen Kollegen. Man kann aber auch Beschäftigte anderswo erreichen.) Mir fallen die Geschichten von dem Beginn der Amazon Organisierung ein. Es war kaum mehr, als eine handvoll Leute, die sich in den Kopf gesetzt hat, den Laden aufzumischen. Mit ihren ersten Aktionen sind sie von den eigenen Kollegen belächelt, angepöbelt und auch bespuckt worden. Sie machten sich dann daran, ihnen nicht zu sagen, was sie machen sollten, sondern herauszufinden, wo bei ihnen der Schuh drückt. Sie machten Befragungen. Das half. Ihr winzige Zirkel wuchs ein wenig, bis sie sich eine erste Aktion trauten. Als sie den ersten Streikversuch machten, waren sie noch einen verschwindend kleine Minderheit im Betrieb. Mit ihren Streiks suchen sie sich immer Themen, die von den Kollegen als besonders wichtig wahrgenommen werden. (Mal die gesundheitliche Belastung, mal der lange Weg in die Kantine, der von der Pausenzeit abgezogen wird.)

Mit jedem Streik schließen sich mehr Kollegen ihnen an. Ein Vertrauensmann berichtete von einem Kollegen, der ihm vor einem Jahr noch "die Beine brechen" wollte, inzwischen aber selbst mitstreikt. Selbst die Verwirrten ("DA KANN MAN NICHTS MACHEN!") können ihre Einstellung ändern. Besser als gute Argumente sind immer praktische Schritte, die man nachvollziehen und an denen man sich dann auch beteiligen kann. Aus der handvoll Rebellen in dem Betrieb sind rund 1000 geworden. Sie haben sich vernetzt mit anderen Amazonniederlassungen und sind bundesweit etwa 2000 Leute, die sich an den Streiks beteiligen.

Die Videointerviews wurden schonmal an anderer Stelle gepostet:

https://www.youtube.com/watch?v=2FE2fxOkx6Q

https://www.youtube.com/watch?v=cfT7O8Kce6A

Zitat von: Onkel Tom am 12:03:08 Fr. 15.März 2019
Ein möglicher Ansatz sehe ich darin, wenn die Arbeiterklasse ihre solidarische Zusammenarbeit
so gestaltet, das Gewerkschaft denen zu folgen hat, statt die Arbeiterklasse den Gewerkschaften
folgt.

Anbei würden Konflikte zu "wilden Streik" oder "Generalstreik" erwachen. Aber besser das, als sich
immer wieder von Gewerkschaftsfunktionären an der Nase herum führen zu lassen..

Ich denke, daß Streik (vom Bummelstreik über den Wilden Streik bis zum Generalstreik) eher Fernziele sind, die man auch schon diskutieren, aber erstmal schwer umsetzen kann.

Wir müssen früher anfangen. Das Thema Arbeit wieder zum Thema machen. Der Ansatz der Amazon-Kollegen, erst einmal mit den Leuten zu quatschen, um herauszufinden, wo der Schuh drückt, erscheint mir recht vorbildlich. Wenn man die Probleme kennt, kann man weiter überlegen, wie man reagieren kann, welche Aktivitäten möglich und sinnvoll wären...

Rudolf Rocker

Ich sag nur: Greta Thunberg!
Die hat ganz alleine angefangen und heute gehen zichtausende Schüler*innen weltweit auf die Straße!
Das ist mal sowas von beeindruckend!!
"Da kann man nichts machen" ist das Synonym für "Ich habe keinen Bock meinen Arsch zu bewegen"!

Onkel Tom

Jo, die Klimaschutzdemos organisiert von Schülern find ich auch beeindruckend..

Wenn man mal bedenkt, im welchen Alter die Entscheidungsträger in der Politik sind,
könnte man meinen, das sie sich dazu a la "Nach mir die Sintflut" verhalten und das
Problem nur vor sich her schieben..

Mit dem Spruch "Da kann man nix machen" komme ich auch nicht zurecht.
Die meisten warten darauf, das andere mit irgendwas anfangen und schließen sich
erst dann an, wenn die Mitstreiterzahl so groß geworden ist, das man sich zum Kampf
oder Forderungen stellen sicher fühlt.

Ist ja auch einfacher, fremdverantwortlich mit zu latschen, statt Eigenverantwortung zu
riskieren  :(

Hut ab von einer Handvoll Leuten, die was organisieren und tun und Masse in Bewegung
bekommen  :)
Lass Dich nicht verhartzen !

Kuddel

Interessant finde ich die Idee, einen Betrieb von innen (den Beschäftigten) und von außen (von Unterstützern) anzugreifen. Ein neuer Versuch bei Amazon:

ZitatDas Anti-Amazon-Café will ein Bezugspunkt für den informellen und selbst organisierten Kampf gegen den Aufbau eines Amazon¬Zentrums für Abhörtechnik in Friedrichs¬hain sein. ,,Die Baustelle in Berlin wurde eben eröffnet, noch ist Zeit, Amazon zu verhindern", heißt es in einer Ankündigung. ,,Wir wollen gemeinsam Informationen über Amazon und den Bau des Towers sammeln und Kritik zusammentragen." Außerdem sollen Handlungsoptionen erkundet und in Angriff genommen werden.
https://taz.de/Termine-fuer-Berlin-2806-0172020/!171161/

Nao

Weltweit gibt es Versuche, die herrschenden Verhältnisse zum Einsturz zu bringen, indem man Kämpfe in Betrieben organisiert. In Deutschland war es in den 70er Jahren regelrecht eine Bewegung, daß linke Studenten in Betriebe gegangen sind. Das ist heute eher rar geworden.

In China gab es gerade wieder solche Tendenzen. Es gab eine große Zahl marxistischer Lesegruppen, die sich dann für Betriebsrabeit zu interessieren begannen. Die Kämpfe vor zwei Jahren bei Jasic, gingen weltweit durch die Medien und führten zu knallharter staatlicher Repression.

Nun gibt es einen Bericht, der Einblicke in die Vorstellungen und Organisationsstrukturen dieser Aktivisten gibt:

https://www.forumarbeitswelten.de/blog/leninisten-in-einer-chinesischen-fabrik/

Kuddel

Wer sich für diese Art politischer, bzw. revolutionärer Arbeit interessiert, sollte sich die halbe Stunde Zeit für den mehr als 20 Jahre alten Film nehmen:

Jeder Schritt zählt
30 min | 1998
Film über die Gruppe oppositioneller Gewerkschafter" (GoG) bei Opel in Bochum.
https://de.labournet.tv/jeder-schritt-zaehlt

Kuddel

Betriebliche Kämpfe müssen wieder in die öffentliche Diskussion getragen werden.
Öffentlichkeitsarbeit und Unterstützung von außen ist möglich. Ein schönes Beispiel aus Stuttgart:

Plakate im öffentlichen Raum "Wer hält den Laden am Laufen? Die Chefs sicher nicht"


https://solidaritaet-und-klassenkampf.org/2020/10/plakate-zur-krise-im-oeffentlichen-raum/

Fritz Linow

ZitatDas Salz in der Suppe? – Radikale Elemente im Betrieb (Serie Teil 1)

Die radikale Linke in Deutschland hat den Betrieb als Feld der Agitation und Öffentlichkeitsarbeit weitgehend vernachlässigt, ja aufgegeben. Ich meine mit "den Betrieb" nicht irgendwelche Betriebe, wo andere Leute arbeiten, die wir vor den Werkstoren agitieren könnten, oder Arbeitskämpfe, an denen wir uns möglicherweise solidarisch beteiligen könnten – was immer zu begrüßen ist! –, sondern den eigenen Arbeitsplatz, die eigenen Kolleg*innen.
(...)
https://lowerclassmag.com/2020/11/02/das-salz-in-der-suppe-radikale-elemente-im-betrieb-serie-teil-1/

Der Artikel schlägt eine weiterführende Diskussion vor, daher absolut empfehlenswert, auch wenn es nur den üblichen Dunstkreis erreicht.

ZitatDie Welle wilder Streiks, die 1973 durch Westdeutschland ging, die mit dem großen Fordarbeiterstreik 1973 ihren Höhepunkt fand, geschah zumeist mit Beteiligung dieser radikalen Elemente. Vielleicht waren sie — und das ist meine die zentrale Vermutung und Hoffnung — so etwas wie das Salz in der Suppe.

Das Salz konnte und kann aber auch verdammt bitteres Essig werden. Die Gefahr, Betriebsintervention zu betreiben, um sich der eigenen Radikalität zu vergewissern, besteht immer. Daher ist die im Artikel erwähnte Betriebsfibel von Bernie Kelb nachwievor lesenswert.
Ich vermute, dass (bewusst) radikale Elemente nicht das Salz im Betrieb sind.

Kuddel

Wir haben es in unserer regelmäßigen Diskussionsrunde öfter als Thema gehabt: Betriebsarbeit braucht einen langen Atem.

Einer benannte es sehr konkret: Wenn man wirklich etwas bewegen will, dauert es meist ca. 10 Jahre. Zuerst muß man während der Probezeit die Klappe halten. Man muß lernen, den Betrieb und das Verhalten der Kollegen zu verstehen. Man muß ein Vertrauensverhältnis zu den Kollegen aufbauen. Und einen praktischen Ansatz für betriebliche Auseinandersetzungen und Kämpfe gibt es nicht jeden Tag. Das können unvorhersehbare Änderungen in den Abläufen sein, auf die man dann spontan reagieren muß.

Ich habe von Leuten mit einem trotzkistischen Hintergrund gehört, die bei Amazon angefangen haben, um dort etwas zu bewirken. Sie waren kritisch und hellwach und sie versuchten, die Kollegen zu mobilisieren, doch sie haben die Klappe zu früh aufgerissen. Sie waren noch noch nicht in der Stammbelegschaft, sondern befristet. Ihre Verträge wurden nicht verlängert. So einfach ist Amazon die Störenfriede losgeworden.

Linke sind dieses langfristige Denken und Handeln nicht gewohnt. Die übliche Kampagnenpolitik (Demos und Aktionswochen) werden einige Wochen, maximal einíge Monate lang vorbereitet. Sich aber monatelang bewußt zurückzuhalten, kann man sich nicht vorstellen.

Einer aus unserer Diskussionsrunde sagte, er hätte aufgehört mit Studenten zusammenzuarbeiten. Das würde meist vielversprechend beginnen, aber wenn sich etwas entwickelt, worauf man aufbauen könnte, seien sie wieder weg.

Ich habe ähnliches erlebt. Ich habe einen Studenten kennengelernt, der in einem Callcenter jobbte. Er gehörde zu einer Gruppe linker Studenten, die sich als Callcenteraktivisten zusammengetan hatten. Sie haben einen guten Blick auf die Ausbeutungsverhältnisse, die Kollegen und die Spaltungen untereinander gehabt. Ihnen war auch bewußt, daß sie erstmal die Klappe halten müssen, so lange sie noch befristete Verträge haben. Aber als es soweit war und die Befristung in einen Festvertrag hätte gehen können, hat sich die Gruppe aufgelöst, da die Lebenswege der Studis sich in alle Richtungen verstreut haben.

In den 80er Jahren propagierte die Zeitschrift die "militante Untersuchung" und man ging auch in die Betriebe. Das war eher eine Studie, aus der man einen Bericht für das Magazin formulierte. Man versuchte auch, die Kollegen aufzustacheln, doch die Erfolge waren spärlich. Für das Gros der Leute aus dem Wildcat Umfeld war es meist eine zeitlich sehr übersichtliche Sache, man wollte dann auch schnell wieder aus dem Ausbeutungsverhältnis raus sein. Ich möchte den wenigen, die aus dem Wildcat Zusammenhang über Jahre im Betrieb bleiben, nicht unrecht tun.

Weiter oben wird über den Opel Aktivisten Wolfgang Schaumberg berichtet. Er hat als Student Ende der 60er einen Ferienjob bei Opel begonnen, um den Arbeitern da klarzumachen, daß sie sich der Revolution anschließen sollten. Es war nicht ganz so einfach. Aus den paar Wochen Agitationsarbeit während der Semesterferien wurden 30 Jahre Arbeit bei OPEL. Ohne die beharrliche Arbeit der oppositionellen Arbeitergruppe GoG wäre es wohl nicht zu den legendären wilden Streiks bei Opel gekommen, und zur höchsten Abfindung von entlassenen Arbeitern, die es in Deutschland gegeben hat.

Fritz Linow

Zitat17.2.21
Entfremdete Kampfgefährten

In Westdeutschland gingen in den 1970er-Jahren linke Intellektuelle noch in die Betriebe, um die Arbeiterschaft wachzurütteln.

Linke Intellektuelle und Geringverdiener kann man sich heute nur noch schwerlich Seite an Seite vorstellen. Ganz anders in den Nachkriegsjahrzehnten. Da herrschte ein reger Austausch zwischen der Uni und der Werkbank. Linke Intellektuelle, Studenten und belesene Linke gingen in Massen in die Betriebe und organisierten zusammen mit den Angestellten große Arbeiterkämpfe. Sie bildeten eine Symbiose, von der heute so gut wie gar nichts mehr übrig zu sein scheint.
(...)
https://www.rubikon.news/artikel/entfremdete-kampfgefahrten

Nao

Heute gibt es weniger Betriebe mit großen Belegschaften.
Viele Beschäftigte sind outgesourct, in der Leiharbeit, Freiberufler oder scheinselbständig.
Es scheint unmöglich, die isolierten Beschäftigten zu organisieren.

Der Essenskurier Mengzhu hat in Peking bewiesen, daß es möglich ist, auch diese Leute zu organisieren. Er ist selbst aus der Branche und kennt die Probleme in dem Job und die Mentalität der Kollegen.

Er bot erst einmal ganz einfache Hife bei Alltagsproblemen an.
Probleme bei der Wohnungssuche, Probleme nach einem Verkehrsunfall. Er kümmerte sich um einen Besuch im Krankenhaus, er stellte in ein Zimmer seiner Wohnung Etagenbetten, damit die Kurierfahrer, die vom Land kommend, sofort einen Fahrerjob, aber keine Wohnung in der Stadt fanden, erst einmal ein Dach über dem Kopf bekamen zum Selbstkostenpreis. Mengzhu hatte vorher ein Restaurant betrieben, das jedoch pleite ging. Da hatte er Kochen gelernt. Er kochte gern für Kollegen, so konnte man ins Gespräch kommen.

Das klingt alles menschlich und rührend, doch zugleich völlig unpolitisch. Das war es nicht. Das war eine gute Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und Vertrauen zu gewinnen.

Er klebte dann einen QR Code an die Lieferbox seines Motorrads. Wenn man die einscannte, kam man auf seinen Riders Kanal in den sozialen Medien. Kollegen, denen der Kanal gefiel, taten es ihm gleich. Sie klebten sich auch den QR Code auf ihre Box.

Er führte mehrere Riders Online-Kanäle, die sich immer größerer Beliebtheit erfreuten. Er postete darauf ständig Videos, in denen er von den täglichen Problemen bei der Arbeit berichtete. Er fand Anwälte, die bereit waren, den Fahrern kostenlose Rechtsberatung zu geben-

Auch größere Medien wurden auf ihn aufmerksam und berichteten. Seine Kanäle erreichten bis zu 15.000 Fahrer. Er sprach mit Journalisten, linken Aktivisten, Sozialwissenschaftlern. Er knüpfte Kontakte zu Ridern anderer Städte, die auch mit einem lokalen Aktivismus begannen. Er lud zu großen Riders Essen ein, zu dem bis zu 200 Kollegen zusammenkamen.

DAS ist ein Beispiel für erfolgreiches Organisieren von Kollegen in einem schwierigen Bereich.

Kuddel

Ein lesenswerter, wichtiger Artikel:

ZitatHolen wir uns die Betriebe, Genoss:innen!



Es ist ja immer noch Kapitalismus und wenn wir in dem überleben wollen, müssen wir die Waren erwerben, derer es dazu bedarf. Dazu brauchen wir Geld. Und wer nicht über den Segen eines reichen Elternhauses verfügt, wird früher oder später in die Welt der Lohnarbeit eintreten. Das gilt sehr allgemein und doch ist genau dieser Bereich des eigenen Arbeitslebens einer, der in der hiesigen radikalen und autonomen Linken eigentlich so gut wie nie eine politische Rolle spielt. ,,Das Private ist Politisch" gilt offenbar für diesen an sich schon politischen Part des sogenannten Privatlebens kaum. Arbeit ist Arbeit. Politik findet nach Feierabend statt und dreht sich meistens auch um ganz andere Themen.

Das hat weitreichende Auswirkungen, denn die je individuellen Strategien im Umgang mit diesem riesigen blinden Fleck sind auch für Organisationen nicht leicht zu verdauen. Karrierismus ist eine beliebte Strategie: Wenn man schon nichts dran ändern kann, dass man Geld verdienen muss, dann möchte man schon bitte recht viel davon. Und da die im Vergleich zur Normalbevölkerung überproportional studentische und gut vernetzte urbane Linke hier auch Möglichkeiten ohne Ende hat – von der Mitarbeiterstelle beim MdB deiner Wahl über die Funktionärsposten in Stiftungen und Gewerkschaften bis zu dann schon ganz ,,unpolitischen" (einer muss es ja machen) Leitungsfunktionen in Bürokratie, Medienzirkus oder bei Konzernen -, lockt der Aufstieg. Irgendeine Scham muss man nicht empfinden, denn wenn man nicht gerade Bulle wird, interessiert es eigentlich keinen, was man arbeitstechnisch so macht. Es ist Privatsache.

Nun besteht auch die außerparlamentarische Linke nicht zu 100 Prozent aus aufstiegswilligen Karrierist:innen, wahrscheinlich nicht einmal mehrheitlich. Aber auch dem Rest, der unterbezahlt und ausgepowert vor sich hin malocht, bleibt nicht viel anzufangen mit diesem Schicksal. Auf einem durchschnittlichen Plenum sitzen dann vielleicht ein:e Erzieher:in, ein:e Handwerker:in, fünf Student:innen und drei Erwerbslose. Dass mehrere Leute aus einem Betrieb zufällig auch in der selben Gruppe sind, ist eher selten. Man verbannt daher den Bereich, der einen Großteil der eigenen Lebenszeit einnimmt, aus dem eigenen Aktivismus und kümmert sich lieber um andere wichtige Themen. Im Betrieb erzählt man am Besten gar nicht, dass man Kommunist:in, Anarchist:in oder sonstwas ist, das gibt nur Stress.

Das Ergebnis ist eine radikale Linke, die sich zwar (zurecht natürlich) mit internationalen und gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigt, aber keine Kraft in der Arbeiter:innenklasse hat, die trotz aller Unkenrufe nun mal die breiteste soziale Klasse mit gemeinsamen Interessen auch in diesem Land ist. Dass dann gelegentlich Bücher und Artikel erscheinen, die beschwören, wie unendlich wichtig die Klassenfrage ist, ändert daran auch nichts, denn die zirkulieren sehr selten in Belegschaften als Pausenlektüre.

Ein Banner zu malen, śich vor einen Betrieb stellen, wenn da mal was geht, und sich solidarischen zeigen, ist da uniroisch schon besser als nichts. Es ersetzt aber nicht, als Gleiche:r unter Gleichen in einem Betrieb mit den eigenen Kolleg:innen zu diskutieren, für die eigene Weltanschauung zu werben und der meistens ohnehin schon vorhandenen Wut eine Richtung zu geben.

Im richtigen Betrieb ist das deutlich einfacher als man gemeinhin denkt. Als ich nach einem halben Leben in freiwilliger postakademischer Prekarisierung endlich eine Umschulung in einen normalen Handwerksberuf gemacht hatte, war ich erstmal überrascht, wie wenig an der Mär dran ist, die Klasse sei ,,unpolitisch". Im Schnitt waren alle Gespräche politischer als in der ,,politischen Szene", wenn auch nicht immer ,,politisch korrekt". Und die Frontlinien waren, zumindest in Großbetrieben, auch immer recht klar. Auch, wenn die Kolleg:innen oft (berechtigte) Angst haben, zu kämpfen, dass man vom Chef über den Tisch gezogen wird und der Vorarbeiter ein Arschloch ist, das wissen die meisten, das braucht keiner erklären. Dazu kommt, dass unter Kolleg:innen oft – trotz aller Spaltungslinien und Konkurrenzverhältnisse innerhalb der Klasse – ein Vertrauensverhältnis da ist, das ansonsten nicht gegeben ist. Es ist etwas anderes, ob ich acht, zehn, zwölf Stunden am Tag mit den anderen gemeinsam dieselbe Scheisse durchstehe, oder ob ich auf der Straße Wildfremde anquatsche.

,,Revolutionäre Arbeit soll nicht in dem Freiraum stattfinden, den das herrschende System für politische Tätigkeit nach Feierabend zur Verfügung stellt: Parteiversammlungen, Wahlzirkus und notfalls auch mal die Straße für Demonstrationen. Revolutionäre Arbeit soll vielmehr gerade in dem Bereich stattfinden, der für die freie politische Betätigung tabu ist: am Arbeitsplatz, im Betrieb", schrieb Berni Kelb in seiner ,,Betriebsfibel". Die Lage ist dafür schon deshalb nicht schlecht, weil ohnehin viele Belegschaften kämpfen – von den Lieferfahrer:innen über die Pflege, von Logistik bis Metall-Industrie.

Der erste Schritt für die außerparlamentarische Linke zu einem Schritt in diese Tür wäre, sich zu erinnern, dass die Art und Weise, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen, natürlich keine ,,Privatsache" ist, sondern im Zentrum auch unserer politischen Betätigung stehen sollte.

Für diejenigen, die ohnehin schon malochen, heisst das, die Kolleg:innen als politische Subjekte zu begreifen, ordentlich Rabatz im Betrieb zu machen und die Genoss:innen in der Politgruppe außerhalb dazu zu bewegen, das zu unterstützen. Für die anderen würde das wiederum heissen: Sich das eigene Arbeitsleben so zu gestalten, dass man auch Aussicht darauf hat, mit anderen Kolleg:innen in Kontakt zu kommen, die man organisieren will. Sich zu überlegen? Ist die Arbeit, der ich nachgehe, denn eigentlich geeignet, andere Kolleg:innen zu organisieren? Alleine am Schreibtisch in der akademischen Dauerprekarisierung dahinsiechend oder als heranwachsende:r Chef:in mit BWL-Master wird man wahrscheinlich weniger Aussicht auf kollektive Aktion der Klasse haben als auf Station im Krankenhaus, im Tiefbau oder als Fahrradkurier:in.
https://lowerclassmag.com/2021/07/14/holen-wir-uns-die-betriebe-genossinnen/

Kuddel

Hin und wieder wird wieder von Linken über Betriebsarbeit geredet.
Die begeisterten Run auf die Fabriken, um dort die Revolution voranzutreiben, gibt es heute nicht mehr, jedenfalls nicht so hoffnungsfroh und massenhaft.

Die Kleingewerkschaft FAU entwickelt sich immerhin ein wenig von einer linksradikalen Szeneorganisation in Richtung Gewerkschaft. Sie zeigt ihre stärken erst einmal hauptsächlich in Bereichen, in der die Linksradikalen selbst jobben: In der Gastronomie, in Bioläden und bei den Radkurieren. Ich fand es großartig, wie es ihnen gelungen ist, Kämpfe osteuropäischer Migranten zu unterstützen bei den Bauarbeitern vom "Mall of Shame" (Berlin) und dem Erntearbeitern eines Spargelhofs in der nähe von Bonn. Im Umfeld gibt es auch die Organisierung von universitären Beschäftigten und gewerkschaftliche Arbeit im Knast. Es gab auch noch andere positive Einmischungen und Kämpfe.

Ich glaube, die aktivste Betriebsarbeit findet bei der MLPD statt. Man ist bei den Autoherstellern und den Zulieferern dabei, hat auch noch den ganz traditionellen Arbeiter, den Bergmann, im Visier. Es gibt MLPD Leute in recht unterschiedlichen Betrieben. Es gibt teilweise heftige Kritik an deren Betriebsarbeit, aber erst einmal muß man Respekt dafür zollen, daß sie tatsächlich in Betrieben vertreten sind und nicht nur davon reden.

Wie es aktuell in WILDCAT Kreisen aussieht, kann ich nicht so genau sagen. Ich glaube, sie gehen nicht mehr in Gruppen Betriebe für eine begrenzte, kurze Zeit, um dann mit einer militanten Untersuchung an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie haben aber noch hier und da Leute, die langfristig im Betrieb sind, bei Amazon, im Krankenhaus...

Die Trotzkisten regen sich gern über die Gewerkschaftsbürokratie auf, doch ihre Betriebsarbeit erscheint mir eher etwas planlos. Man ging z.B. recht enthusiastisch zu Amazon und wartete nicht auf Entfristung. Als sie sich aktivistisch hervortaten, waren sie ihren Job gleich wieder los. Sie machen wohl auch noch Sachen bei der Post und im Krankenhaus. Soll teilweise recht vernünftig sein.

Die DKP ist auch nur noch ein Schatten ihrer selbst. Soweit ich weiß, haben sie hauptsächlich noch aktive Leute in einigen Krankenhäusern. Viel mehr ist mir nicht bekannt.

Ich glaube, die Linkspartei weiß nicht, wie Betriebspolitik geschrieben wird.


Kuddel

ZitatVon der Betriebsintervention zum Organizing

Im Herbst 2021 hat die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt express-Redakteur Torsten Bewernitz mit einer Recherche zum Stand des Betriebsaktivismus heute beauftragt. Die Ergebnisse der – vorerst internen – Studie werfen auch für uns als Redaktion die Frage auf, in welche Richtung sich unser Projekt weiter entwickeln könnte und sollte. Die Studie unseres Redakteurs schließt außerdem an das kürzlich veröffentlichte Interview mit Wolfgang Schaumberg (express 2-3/2022 und 4/2022) über linke Politik im Betrieb an. Unser Jubiläum bietet Anlass für eine solche Reflexion. Wir dokumentieren eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Fazits der Studie.

Auch wenn sich durchaus »neuer« Betriebsaktivismus entdecken lässt – vor allem in Krankenhäusern, an Hochschulen und in prekären Beschäftigungsverhältnissen (insb. Delivery Riders), so muss doch konstatiert werden, dass sich dieser in einem quantitativ recht kleinen Rahmen bewegt und auch qualitativ Unterschiede zur Betriebsintervention der 1970er Jahre aufweist: »neuer« Betriebsaktivismus ist vereinzelter und weniger zielgerichtet auf ein transformatorisches Ziel. Er findet vermehrt in prekären Bereichen statt und ihm fehlt die Anbindung an den industriellen Sektor, oftmals aber auch untereinander.
(...)
https://www.labournet.de/?p=201091

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