Konditionierung durch Bestrafen: „Hartz IV“-Sanktionen

Begonnen von dagobert, 03:05:01 Di. 06.Dezember 2016

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dagobert

ZitatKonditionierung durch Bestrafen: ,,Hartz IV"-Sanktionen

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Fazit

Es geht bei den ,,Hartz IV"-Sanktionen nicht in erster Linie um die Bestrafung des bzw. der einzelnen Betroffenen, obwohl es individuell betrachtet eine solche ist, sondern es geht dabei um das gesellschaftliche Projekt der Disziplinierung. Ziel ist nicht der oder die Einzelne, Ziel ist die Gesellschaft.

Es geht um die Disziplinierung der Armen mit Hilfe eines komplexen und daher kompliziert erscheinenden Sozialsystems, welches gerade die reine physische Existenz garantiert, obwohl es ständig behauptet, ,,sozio-kulturelles Existenzminimum" [31] zu sein.

Es geht um die Disziplinierung der Arbeitenden mit Hilfe eben der Existenz dieses Sozialsystems, welches einen zwar nicht verhungern läßt, wie das Gefängnis einen Gefangenen nicht verhungern läßt, welches sogar ein Dach über dem Kopf garantiert, wie das Gefängnis den Gefangenen vor den Unbillen der Witterung schützt, als Drohung der Reduzierung auf den nackten Körper bei Unbeugsamkeit.

Es geht um die Disziplinierung aller mit Hilfe des Generalverdachts, welcher versucht, das feudale Rechtsverständnis vor der Französischen Revolution wieder gesellschaftsfähig zu machen (siehe Exkurs I und II). ,,Nur wer arbeitet, soll auch essen", so 2006 der damalige Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) [32]. Da heute aber zumindest im europäischen Kulturkreis niemand mehr verhungern soll (physisch), wird die seelische Variante bevorzugt: am 20. eines Monats ist die Regelleistung aufgebraucht, unter anderem auch weil die ,,Hartz IV"-Empfängerinnen und -empfänger von der EEG-Umlage, die viele Kapitalisten nicht bezahlen, nicht befreit sind, weil immer mehr medizinische Leistungen gekappt werden (z.B. Brillen, sog. Sehhilfen), ohne die Regelleistung zu erhöhen, und bei Eltern, vor allem Alleinerziehenden, die Brutalität, daß ihre Kinder nicht zu Kindergeburtstagen können, weil das Geld für Geschenke fehlt, von der nur hälftigen Übernahme der tatsächlich entstehenden Kosten des Schulbesuchs zu schweigen.

Der Kapitalismus geht seinem Ende zu. Profit läßt sich nur noch realisieren, indem der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne der Allgemeinheit alles genommen wird, um es einigen wenigen Reichen zu geben. Dies gilt nicht nur für die erst durch ,,Hartz IV" möglich gewordenen verbreiteten prekären Arbeitsverhältnisse, der Auflösung der Flächentarifverträge zugunsten von hire-and-fire-Verträgen, im günstigsten Falle zeitlich befristeten sogenannten Werksverträgen, sondern dies gilt auch für die enorme Privatisierung der Vermögen der Allgemeinheit durch Sozialisierung der Folgen. Die Deregulierung, welche durch die regierende Politik zugunsten der herrschenden Kapitalisten gesetzlich der Allgemeinheit aufgebürdet wird, führt gerade bei den Sozialleistungen zu enormen Umverteilungen. Die Krankenversicherung dient nur noch den Kapitalinteressen der Pharmaindustrie (keine Kostendämpfung bei neuen Arzneimitteln in den ersten Jahren) und der Krankenhaus-Mafia (hohe Honorare auf Kosten unbezahlter Überstunden bzw. Personalkosteneinsparung durch Umverteilung der Arbeit auf immer weniger Arbeitskräfte); die staatliche Rentenversicherung finanziert Staatsaufgaben (,,Aufbau Ost") bei gleichzeitiger direkter wie indirekter Steuersenkung für die Reichen und verschafft diesen durch Privatisierung der Rentenversicherung (,,Riester-Rente") Gewinne (Versicherungen), mit der Folge des Totalverlustes für die ,,Rentnerinnen" und ,,Rentner" bei einem Finanzkollaps wie 2007-2009; teilweiser Ausgleich der gesenkten Steuereinnahmen zugunsten der Reichen durch Einsparung von Sozialhilfeausgaben (,,Hartz IV") durch ein (zunehmend verschärftes) Sanktionssystem/Bestrafungsystem gegen diejenigen, die auf die ohnehin unrealistisch zu niedrigen der Existenzsicherung dienenden Sozialleistungen angewiesen sind.

Die Disziplinierung ist das Ziel. Nicht der oder die im Einzelfall der Sanktionierung konkret Betroffene ist das eigentliche Ziel, sondern die Drohwirkung auf die Allgemeinheit: arbeitet lieber prekär, denn wir garantieren euch, daß das aus verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen Gründen gegebene staatliche Existenzminimum nicht nur nicht reicht, sondern nicht sicher ist!

Und deshalb darf die Sanktion nach SGB II auch nicht mehr eine erzieherische Maßnahme gegenüber dem bzw. der Einzelnen sein, die durch individuelles Wohlverhalten entfällt, wie noch zu Zeiten der alten Sozialhilfe (§ 25 BSHG), sondern muß den Strafcharakter in den Vordergrund stellen, was nur garantiert ist, wenn die Strafe auch als solche rüberkommt. Letzteres geht nur, wenn sie individuell durch Wohlverhalten nicht beeinflußbar ist, also einen absoluten Kern hat: Mindeststrafe (§ 31b SGB II: ,,Der Mindestzeitraum beträgt drei Monate."). Und genau deswegen ist die Sanktion im ,,Hartz IV"-System eine echte Strafe. So wie das Gefängnis (die Freiheitsstrafe) par excellence das Gegenstück zum Grundprinzip Freiheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist [33], so ist der Entzug jeglicher Mittel zur Existenzsicherung – als Strafe – par excellence das Gegenstück zum Grundprinzip Geld dieser Gesellschaft.
Hervorhebungen im Zitat wie im Original (ich hoffe ich hab nix übersehen), zum vollständigen, absolut lesenswerten, Artikel geht es hier:
http://www.herbertmasslau.de/strafsystem-hartz-iv.html
"Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden."
Thomas Mann, 1936

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