Von der Ruhrlade zum Verfassungsschutz Kapitalismuskritik wird kriminalisiert

Begonnen von Rappelkistenrebell, 16:15:32 Fr. 27.Januar 2017

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Rappelkistenrebell

Von der Ruhrlade zum Verfassungsschutz
Kapitalismuskritik wird kriminalisiert
Von Ulrich Sander

|    Ausgabe vom 27. Januar 2017

Bis 1989 war der Kapitalismus kein Begriff, mit dem sich die Bundesrepublik zieren mochte. Nach den Erfahrungen mit dem Faschismus als einem der möglichen Resultate kapitalistischer Entwicklung wandten die Wortführer der vorherrschenden Gesellschaftspolitik in der BRD vorzugsweise den Begriff ,,soziale Marktwirtschaft" an, um ihr System zu kennzeichnen. Die ,,freiheitliche demokratische Grundordnung", wie sie im Grundgesetz beschrieben wurde, galt als Alternative zum Kapitalismus. Die Gewerkschaften machten diese Sprachregelung lange Zeit nicht mit; sie sprachen von der ,,Wiederherstellung der alten Besitz- und Machtverhältnisse" aus der Zeit der Weimarer Republik, wenn sie den Kapitalismus kennzeichnen wollten, allerdings herrsche darin die ,,Sozialpartnerschaft".

Verächtlichmachung des Begriffs Antifaschismus

Ab 1990 machte sich die Bundesregierung daran, die DDR vollkommen zu delegitimieren. Jeglicher Sozialismus wurde verunglimpft. Auch der Begriff des Antifaschismus sollte verschwinden – in Ost und West. Sogenannte Berater des Verfassungsschutzes gingen nach der Methode vor, ,,Rot ist schlimmer als braun, weil noch wirksam". Der Berater des Bundesamtes für Verfassungsschutz und spätere Professor Eckard Jesse hat in einem Grundsatzartikel in der ,,FAZ" vom 28.8.1991 der Hoffnung der Ultrarechten Ausdruck gegeben: ,,Vielleicht werden die frühen neunziger Jahre dereinst als eine Inkubationszeit für den Beginn eines ,Anti-Antifaschismus' gelten." Bald danach wurde diesem Begriff von Neonazis mit terroristischen Methoden Nachdruck verliehen. Es gab eine Broschüre zur ,,Inneren Sicherheit" mit dem Titel ,,Bedeutung und Funktion des Antifaschismus". Darin wird im Vorwort des Ministeriums der angebliche Missbrauch des Antifaschismus angeprangert: ,,Die Linksextremisten sehen in ihm ein neues Schwerpunkt-Aktionsfeld für sich. (...) Sie setzen auf die traditionelle Zugkraft des Antifaschismus, um so ihre Bündnisfähigkeit zurückzugewinnen." (hg. vom Bundesinnenministerium, Oktober 1990)

Zentraldatei des Geheimdienstes gegen die Antifaschisten

Fortan wurde auch der Kapitalismus ganz unbefangen von der Regierung davon freigesprochen, geschichtlich belastet zu sein. Kapitalismus und Demokratie wurden gleichgesetzt. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten lehne ,,die ,kapitalistische', mithin freiheitliche demokratische Grundordnung ab". So wird in einem Grundsatzpapier fälschlich formuliert, welches das Land Hessen in ein Verfahren einbrachte, mit dem sich das frühere Berufsverbotsopfer Silvia Gingold gegen die andauernde Bespitzelung wehrt. ,,Die VVN-BdA duldet Kommunisten in ihren Reihen", empört sich der hessische Verfassungsschutz. Und weiter: ,,So führte der Bundessprecher Ulrich Sander in seiner Rede auf dem UZ-Pressefest 2014 (...) der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) in Dortmund u. a. aus: ,Viele Angehörige der Hinterbliebenen des deutschen Widerstandes gehören der VVN-BdA an. Sie haben auf dem letzten Pressefest hier in Wischlingen die neue Zeitzeugenorganisation ,Kinder des Widerstandes' auf den Weg gebracht. Auch von diesen Antifaschistinnen und Antifaschisten grüße ich heute. Unter ihnen sind viele Kommunistinnen und Kommunisten, denn die Arbeiterbewegung war besonders aktiv im antifaschistischen Widerstandskampf."
Da wird dem deutschen antifaschistischen Widerstand, der weltweit, nur nicht hierzulande hochgeachtet ist, der Vorwurf gemacht, sich überhaupt gegen die Nazis aufgelehnt zu haben.
Die Antwort des hessischen Verfassungsschutzes auf Silvia Gingolds Klage gegen das Land Hessen (siehe den Bericht in der UZ vom 13.1.) ist äußerst aufschlussreich. So ist man überrascht, dass auch ein grün mitregiertes Land wie Hessen sich verhält, als sei es das Land Bayern. Es wird klar, dass die Nichtbehandlung der VVN-BdA in den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der allermeisten Länder – außer Bayern – nur wenig bedeutet. Es besteht, so wird bestätigt, ein zentraler Verfassungsschutzverbund aller Ämter des Bundes und der Länder, der mit einem großen einheitlichen Dossier über die VVN-BdA arbeitet, bei dem sich alle Geheimdienste bedienen können. Es wird mitgeteilt: Zwei Drittel der Bundesländer und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bespitzeln und behindern die VVN-BdA. Lediglich in den fünf Bundesländern Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sachsen stellt die VVN-BdA derzeit offiziell kein Beobachtungsobjekt dar. Doch Sachsens Regierung verhält sich in Sachen Antifaschismus durchaus konform; und dass auch Thüringen die VVN-BdA bespitzelt, durfte nach früheren Äußerungen von Bodo Ramelow nicht einfach erwartet werden, na ja. Der einzige wirkliche aktuelle ,,Beleg" für die Verfassungsfeindlichkeit großer Teile der VVN-BdA bzw. ihrer linksextremistischen Beeinflussung ist laut Dokument die Duldung solcher Mitglieder wie Silvia Gingold und Ulrich Sander in der Führung der VVN-BdA. Die Verfassungsfeindlichkeit der DKP wird offenbar als bekannt und erwiesen vorausgesetzt. Als Beispiele aus der Spitzeltätigkeit werden Vorträge, Lesungen – zum Beispiel aus den Erinnerungen Peter Gingolds – durch die Töchter von Peter Gingold herangezogen.

Wenn Kapitalismuskritik ,,verfassungsfeindlich" wird

Ihre Verfassungsfeindlichkeit, so die VS-Zentrale, äußere sich auch im Antikapitalismus der VVN-BdA, denn jede nichtkommunistische Ordnung sei nur eine Vorstufe zum Faschismus und werde von der VVN-BdA bekämpft: Dass es gelte, den Faschismus mit seiner Wurzel zu beseitigen (Schwur von Buchenwald) sei Ausdruck dafür, dass der Schwur ein kommunistische Hervorbringung ist. Der Hinweis auf den großen Anteil der Kommunistinnen und Kommunisten am Widerstand gegen den Nazismus wird nicht etwa als entlastend angesehen. Es wird nahegelegt, dass der antifaschistische Widerstand vor 1945 im Grunde genommen verfassungsfeindlich war.
Hier fühle ich mich an die Rechtsprechung des Kalten Krieges gegen Kommunisten erinnert, die unbelehrbar seien, was man an der Wiederholung ihrer staatsfeindlichen Handlungen von vor 1945 erkennen könne. Jede Kritik an Geheimdiensten wie dem Verfassungsschutz wird nicht etwa als legitime Meinungsäußerung gewertet, sondern als Beleg für die Richtigkeit der Äußerungen des Verfassungsschutzes über die VVN-BdA und über Silvia Gingold.

Geschichte der Schwerindustrie mahnt uns
Der Eifer des Inlandsgeheimdienstes zur Delegitimierung des Antifaschismus und zur Verteidigung des Kapitalismus erfolgt in einer Zeit, da der Kapitalismus wieder besonders autoritäre und verfassungsfeindliche Züge annimmt. Dagegen gilt es Aufklärung zu setzen. Daher erinnerten wir in einer Aktion am Sitz des Geheimbundes ,,Ruhrlade" an die Rolle dieser Organisation, die von 1928 bis 1938 existierte. Es handelt sich dabei um eine kriminelle geheime Vereinigung von Superreichen profaschistischen Charakters, wie sie weltweit bis dahin unbekannt war. Anfang Januar wurde ein Antrag an die Stadt Dortmund gestellt, den Tagungsort der Ruhrlade an der Hainallee zu kennzeichnen und mit einer Mahntafel zu versehen. Vorgesehen ist die Inschrift:
,,Hier an der Ecke Eintrachtstraße/Hainallee stand die Villa Springorum. Es trafen sich darin am 7. Januar 1933 Franz v. Papen und führende Ruhrindustrielle des Geheimbundes ,Ruhrlade', um über die Machtübertragung an Adolf Hitler und seine Partei zu entscheiden. Sie erfolgte am 30. Januar 1933, und viele Ruhr­industrielle unterstützten sie. Sie profitierten von Rüstung und Krieg, von der Beseitigung der Demokratie und der Gewerkschaften, von Antisemitismus, Holocaust und Zwangsarbeit und von der Unterdrückung und Ausplünderung der Völker Europas."
Mitglieder der Ruhrlade waren u. a. Karl Haniel, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Ernst Poensgen, Paul Reusch, Friedrich Springorum, Fritz Thyssen und Albert Vögler.
Ein Treffen am 4. Januar 1933 in Köln zur Vorbereitung der Machtübertragung an Hitler und das Treffen am 7. Januar 1933 in Dortmund stehen in engem Zusammenhang. Doch die wirkliche Entscheidung wurde in Dortmund von der geheimen ,,Ruhrlade" getroffen. Hier wurde Geld für Hitler bereitgestellt, weil dieser versprach, die letzten Wahlen durchzuführen und sie dann für immer abzuschaffen.

Wahlen werden unwichtig – das große Geld entscheidet
Die politische Herrschaft der Reichen und Superreichen wurde kürzlich wieder seitens der Regierung eingestanden: ,,Regierung streicht heikle Passagen aus Armutsbericht. (...) So fehlt zum Beispiel der Satz: ,Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird.'... (,,Süddeutsche Zeitung", 15.12.2016)
Zudem droht der Schlussstrich und die Aktenvernichtung bei der Justiz. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg soll geschlossen werden, enthüllte die ,,Jüdische Allgemeine". Dabei wäre noch viel zu tun. Die Erbauer von Auschwitz-Birkenau, die Banker und IG-Farben-Manager bzw. ihre Institutionen sowie die Schwerindustriellen der Ruhrlade wurden nicht belangt. Ihre strafweise Enteignung unterblieb. Es gab umfassende Tätergruppen, die nie von deutschen Gerichten belangt wurden. So die großen deutschen Unternehmer. Ferner die Militärs, die nach 1945 von der Wehrmacht in die Bundeswehr wechselten und an den Massakern in den von Nazideutschland besetzten Gebieten beteiligt waren. Hunderte von ihnen leben noch.
Alle Formen der kapitalistischen Herrschaft und Eigentumsverhältnisse – so die konstitutionelle Monarchie, die parlamentarische Republik und auch der Faschismus – sehen die ,,Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen" vor; wer arm ist, hat wenig Chancen auf Einflussnahme. 1933 wäre die Machtübertragung an Hitler und seine Partei nicht möglich gewesen ohne den Willen der ökonomischen Eliten. Krieg, Holocaust, Millionen Tote, ein zerstörtes Europa – all das wäre uns erspart geblieben, wenn die ,,Räte der Götter" oder die ,,Ruhrlade", vor deren früherem Sitz wir bei einer Aufklärungsaktion am 27. Januar stehen werden, nicht ihre Macht ausgeübt hätten.
Antifaschistische Kapitalismuskritik ist daher dringend erforderlich. Seit 2008 arbeitet unsere Organisation an einer Art Anklageschrift, wie sie nie ein Staatsanwalt im Lande geschrieben hat – wie sie aber notwendig gewesen wäre. Wir stellen Anträge und richten Eingaben an zuständige Stellen, um die Tatorte der Täter des großen Geldes zu kennzeichnen und ihre Taten zu beschreiben. Aktivisten der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten weisen vor Ort die Schuld des großen Kapitals an der Vernichtung der Demokratie, an Kriegsvorbereitung und Massenvernichtung von Menschen nach. 1933 wurde der Staat umgekrempelt und jegliche Demokratie beseitigt. Und dies auch an der betrieblichen Basis. Erstmals wird von uns der Umsturz nicht nur im Reichsmaßstab, an der Spitze der Pyramide dargestellt, sondern auch die Auswirkungen in den Betrieben werden verdeutlicht.

Straffreiheit für das Große Kapital

Die Alliierten haben in Nürnberg einige wenige Industrielle angeklagt, die deutschen Behörden haben sie dann wieder freigelassen und ihnen ihren Besitz zurückgegeben. Auch von den ganz Großen wurden nur sehr wenige belangt, so z. B. gingen die Quandts unbehelligt durch die deutsche Nachkriegsgeschichte und gehören damals wie heute zu den Reichsten und Mächtigsten.
Die etablierten Historiker der Drittmittelforschung haben sich darauf geeinigt; das Ansehen des großen Geldes nicht zu beschädigen. Der Historiker aus den USA Henry Ashby Turners legte 1985 dafür den Grundsatz fest: ,,Entspricht die weit verbreitete Ansicht, dass der Faschismus ein Produkt des modernen Kapitalismus ist, den Tatsachen, dann ist dieses System kaum zu verteidigen."
Ja, es soll schöngeredet werden. Die Stadt Dortmund, heimlicher Sitz der Ruhrlade, hat sich in den bisherigen Antworten an uns auf die den Kapitalismus pauschal rechtfertigenden Thesen gestützt, die von Mr. Turner stammen.

Das vergessene Ahlener CDU-Programm
Das widerspricht den bisherigen Aussagen der Gedenkstätte Steinwache – siehe die dortige Information über die Industrielleneingabe vom November 1932. Und es widerspricht den Erkenntnissen aller demokratischen Kräfte nach 1945. Nach 1945 war allgemein die Gewissheit verbreitet und akzeptiert, dass die kapitalistischen Unternehmen und ihre Führungen nie wieder so viel Macht erlangen dürften wie 1933. Im Ahlener Programm der CDU von 1947 hieß es: ,,Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Wirtschafts- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht."
Es ist anders gekommen. Doch es gibt noch immer die Möglichkeiten, an die Erkenntnisse von 1947 anzuknüpfen. Das Grundgesetz und die Länderverfassungen kennen Sozialisierungsartikel. Das Bundesverfassungsgericht entschied in einem Grundsatzurteil im Jahre 1954: ,,Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche." Das Urteil gilt bis heute.
Dennoch verhalten sich viele Gerichte und Ämter für Verfassungsschutz so, als wäre der Kapitalismus gleichzusetzen mit der Verfassung. Kapitalismuskritik gilt als verfassungsfeindlich. Doch damit finden wir uns nicht ab. Wir sagen: Ihr wollt Kapitalismus ohne Demokratie – wir wollen Demokratie möglichst ohne kapitalistische Herrschaft. Überall schreiten die rechten Bewegungen voran, die die Kapitalherrschaft begünstigen, auch wenn sie sich bisweilen kapitalkritisch geben. Viele Millionen Spendengelder und Steuergelder gingen an die AfD und NPD. Viele beträchtliche Beiträge spendete die deutsche Industrie für Donald Trump. Lassen wir nicht zu, dass der faschistische Saatboden, wie Habermas die AfD nennt, wieder reich gedüngt wird.
Im Jubiläumsheft 2016 der ,,Blätter für deutsche und internationale Politik" schreibt Jürgen Habermas: ,,Parteien, die dem Rechtspopulismus Aufmerksamkeit statt Verachtung widmen, dürfen von der Zivilgesellschaft nicht erwarten, dass sie rechte Parolen und rechte Gewalt ächtet." Und so tragen sie dazu bei, dass die AfD von Erfolg zu Erfolg eilt. Statt um die Petrys, Höckes und Gaulands ,,herumzutanzen", fordert Habermas, sie ,,kurz und trocken als das" zu bezeichnen, ,,was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus".
Es gilt, diesen Saatboden zu beseitigen. Die Geschichte mahnt uns.


Quelle

http://www.unsere-zeit.de/de/4904/theorie_geschichte/4651/Von-der-Ruhrlade-zum-Verfassungsschutz.htm
Gegen System und Kapital!


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Dazu passend auch diese beiden Artikel


Gingold gegen Verfassungsschutz
Antifaschistin kämpft gegen Überwachung, hessisches Innenministerium erklärt Geschichte

Von bern
|    Ausgabe vom 13. Januar 2017

Silvia Gingold spricht 2007 auf einer Demonstration gegen das Berufsverbot für Michael Csaszkóczy – seitdem überwacht sie der Verfassungsschutz wieder. (Foto: autonomes-zentrum.org)

Am vergangenen Donnerstag sollte in Wiesbaden der Prozess der Antifaschistin Silvia Gingold gegen das Land Hessen stattfinden. Gingold klagt gegen den hessischen ,,Verfassungsschutz" auf die Beendigung ihrer fortgesetzten geheimdienstlichen Beobachtung und auf die Vernichtung der diesbezüglichen Akten. Als Tochter der bekannten jüdischen Résistancekämpfer und Kommunisten Etti und Peter Gingold war sie bereits in den 1970er Jahren eine der prominentesten Betroffenen des sogenannten Radikalenerlasses.
Dass ihr die Einstellung in den Staatsdienst verweigert wurde sorgte schon damals für internationale Empörung. Der Inlandsgeheimdienst, der ihre Beobachtung nach eigenen Angaben zwischenzeitlich eingestellt hatte, begann im Jahr 2007 mit ihrer erneuten Überwachung.
Der angebliche Anlass war die Rede Gingolds bei einer Demonstration gegen das später als grundrechtswidrig eingestufte Berufsverbot des Heidelberger Lehrers Michael Csaszkóczy, dem sein antifaschistisches Engagement als ,,staatsfeindliche Betätigung" angelastet wurde (UZ berichtete). In dieser Rede war sie auf die Erfahrungen ihrer Familie in der Zeit des Faschismus eingegangen. Dazu merkt das hessische Innenministerium an: ,,Der Bezug zu ihrer ,eigenen Familiengeschichte' wirkt dabei vordergründig, da sie sich erkennbar nicht nur auf die historisch belegten personellen Kontinuitäten zwischen Staatsbediensteten des Deutschen Reiches von 1933 bis 1945 bezieht, sondern diese Kontinuität im Sinne des kommunistisch orientierten Antifaschismus auf die gesamte politische und gesellschaftliche Ordnung der BRD bezieht."
Seit dieser Rede wird jede Betätigung Silvia Gingolds wieder geheimdienstlich beobachtet: Lesungen aus der Autobiografie ihres Vaters, Äußerungen zum 40. Jahrestag des Radikalenerlasses, friedenspolitische und gewerkschaftliche Aktivitäten.
,,Der deutsche Inlandsgeheimdienst fühlt sich trotz der öffentlich gewordenen Verstrickungen mit dem NSU und der militanten Naziszene offensichtlich unangreifbar. In der Verhandlung wird es nicht zuletzt darum gehen, ob dem ,Verfassungsschutz' in der Verfolgung unliebsamer Linker überhaupt noch irgendwelche Grenzen gesetzt sind. Wir fordern zur aufmerksamen Beobachtung und öffentlichen Begleitung des Gerichtsverfahrens auf", solidarisierte sich die linke Solidaritäts- und Rechtshilfeorganisation Rote Hilfe e.V. mit Gingold.

Quelle

http://www.unsere-zeit.de/de/4902/innenpolitik/4481/Gingold-gegen-Verfassungsschutz.htm

,,Beifang" im Spitzelnetz
Vor Gericht zeigt sich, dass Silvia Gingold nicht nur online überwacht wird
Von Olaf Matthes

|    Ausgabe vom 20. Januar 2017

Der Verfassungsschutz will sie auch in Zukunft überwachen: Silvia Gingold bei einer Lesung aus der Autobiografie ihres Vaters Peter. (Foto: Pewe/r-mediabase.eu)
Silvia Gingold werde nicht gezielt als Person überwacht, behaupten die Prozessvertreter des Verfassungsschutzes. Die Informationen, die der Geheimdienst über sie gesammelt hat, seien ,,Beifang", der bei der Überwachung ,,extremistischer" Organisationen wie VVN-BdA, DKP und SDAJ anfalle, in deren Umfeld sich Silvia Gingold bewegt. Sie sei gewissermaßen zufällig in das Netz der Überwachung geraten. Mit ihrer Klage war Gingold bei der Verhandung am 12. Januar vor dem Wiesbadener Verwaltungsgericht nicht erfolgreich – aber der Prozess liefert Hinweise darauf, in welchem Maße der Verfassungsschutz Linke bespitzelt.
Es ist nicht das erste Mal, dass Silvia Gingold im Nachhinein erfährt, wie engmaschig das Spitzelnetz ist, in dem sie ,,Beifang" sein soll. Der Rentner, der ihrem Elternhaus gegenüber lebte, verdiente sich etwas dazu, indem er aufschrieb, welche Nummernschilder die Autos von Besuchern ihrer Eltern hatten. Denn Gingolds Vater war nicht nur als Résistance-Kämpfer von der Gestapo gefoltert worden, ihre Eltern Ettie und Peter wurden als Mitglieder der illegalen KPD auch von den Adenauer-Behörden verfolgt.
Wie andere Aktive aus einer Initiative von Berufsverbotsopfern hatte Silvia beim Verfassungsschutz angefragt, welche Daten über sie gespeichert sind. Die Antwort: Seit 2009 werde sie im ,,Bereich Linksextremismus" geführt. Dass der Geheimdienst in den 70ern die Informationen gesammelt hatte, auf deren Grundlage sie als Lehrerin entlassen wurde, wusste sie. Gegen die erneute Überwachung klagte sie.
Das Gericht in Wiesbaden hat in der vergangenen Woche in der Sache nicht entschieden, nur einen Teil der Klage als unzulässig abgewiesen. Das Verfahren wird nun vor dem Verwaltungsgericht in Kassel weitergehen. ,,Ich mache mir keine Illusionen, dass ich juristisch etwas erreichen kann", sagt Silvia. ,,Aber ich kann mit diesem Prozess erreichen, dass die Öffentlichkeit etwas darüber erfährt, wie Menschen, die sich im Rahmen ihrer Grundrechte engagieren, überwacht, bespitzelt und in die Ecke des Extremismus gestellt werden."
Viel es ist nicht, was der Verfassungsschutz im Verfahren preisgeben muss. 131 Seiten ist die Akte über Silvia Gingold dick, 23 davon gab der Verfassungsschutz freiwillig zur Einsicht an die Klägerin Silvia und ihre Anwältin Bernhild Schömel. In einem geheimen Zwischenverfahren prüfte das Gericht, ob der Geheimdienst die Akten wirklich zurückhalten darf. Sechs weitere Seiten gab er frei. 102 Seiten durfte der Verfassungsschutz entweder schwärzen oder aus der Akte herausnehmen.
Die wenigen Seiten, die sie einsehen konnte, machen aus Sicht der Anwältin Schömel deutlich: Die Behauptung, dass Silvia Gingold nicht als Person überwacht werde – dass sie nur ,,Beifang" sei – ist falsch. Der Verfassungsschutz hat, das zeigen die Akten, umfassende Informationen über Silvias politische Aktivitäten gesammelt: Dass sie bei einem SDAJ-Pfingstcamp aus der Autobiografie ihres Vaters gelesen hat, welche Rede sie beim Ostermarsch gehalten hat, welches Referat sie bei einer Veranstaltung der Marx-Engels-Stiftung über Berufsverbote gehalten hat. Ihren Auftritt bei einer Veranstaltung des DGB Marburg, bei der sie neben Bodo Ramelow auf dem Podium saß, hat der Verfassungsschutz als Video auf DVD.
Die meisten dieser Informationen kommen aus öffentlich zugänglichen Quellen. Nur: Woher kommen die Informationen auf den geschwärzten Seiten der Akte? Der Verfassungsschutz musste zu jeder einzelnen Seite begründen, warum er diese Daten geheim halten will. In diesen Begründungen heißt es zum Beispiel: ,,Der Bericht besteht aus E-Mails, die innerhalb eines kleinen Personenkreises versandt wurden. Diese betreffen zudem zahlreiche Dritte." Der Verfassungsschutz hat E-Mails mitgelesen. Oder: ,,Es handelt sich um hochsensibles Aufkommen, da die Informationen aus persönlichen Gesprächen gewonnen wurden." Der Verfassungsschutz hat anscheinend V-Leute in linken Organisationen nachfragen lassen. Bernhild Schömel sagt: ,,Es gibt in den Akten Hinweise darauf, dass Silvia Gingolds Mailverkehr teilweise überwacht wird und dass V-Männer des Verfassungsschutzes sie überwacht haben."


Schwur von Buchenwald verfassungsfeindlich?
Im Verfahren ,,Silvia Gingold gegen Land Hessen" haben die Prozessvertreter des hessischen Verfassungsschutzes in einem Schriftsatz erklärt, dass es verfassungsfeindlich sei, sich auf den Schwur der Häftlinge von Buchenwald zu berufen. Der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele sagte dazu: ,,Dieser Geheimdienst bespitzelt Linke, unterstützt Nazis – und beschimpft das Erbe des antifaschistischen Widerstandes als antidemokratisch. Wer Antifaschismus und Demokratie will, muss sie gegen diesen Geheimdienst und gegen die Landes- und Bundesregierungen erkämpfen."
In dem Schriftsatz begründet der Verfassungsschutz, warum er Gingold auch in Zukunft überwachen will: Weil Silvia Gingold und die VVN-BdA, für die sie aktiv ist, sich auf den Schwur von Buchenwald berufen, der sich – so der Verfassungsschutz – auf die ,,kommunistische Faschismustheorie" stütze, würden sie die Prinzipien der ,,freiheitlich demokratischen Grundordnung" in Frage stellen. Denn diese Faschismustheorie, so der Verfassungsschutz, beschreibe die parlamentarische Demokratie ,,als potenziell faschistisch, zumindest aber als zu bekämpfende Vorstufe zum Faschismus" und wende sich damit gegen das Recht, eine parlamentarische Opposition zu bilden.
Patrik Köbele stellte dazu fest: ,,1945 schworen die Häftlinge des KZ Buchenwald, die sich selbst befreit hatten: ,Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.' Sie zogen die Lehre aus der deutschen Geschichte: Solange die Banken und Konzerne die Macht haben, gibt es auch die Gefahr, dass sie zum faschistischen Terror übergehen. Der sogenannte Verfassungsschutz dreht das Ganze nun um. Er wirft Sylvia Gingold und der VVN/BdA vor: Sie ,bezeichnet den Kapitalismus als eigentlichen Urheber des Faschismus (...). Konkludent lehnt der Verband (VVN/BdA) also die ,kapitalistische', mithin freiheitliche demokratische Grundordnung ab.' Nun, gewusst haben wir es, aber nun bestätigt der so genannte Verfassungsschutz was seine Aufgabe ist – die Verteidigung des Kapitalismus."

Der Schriftsatz des Verfassungsschutzes kann im Original heruntergeladen werden.

Quelle

http://www.unsere-zeit.de/de/4903/innenpolitik/4538/%E2%80%9EBeifang%E2%80%9C-im-Spitzelnetz.htm
Gegen System und Kapital!


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Rappelkistenrebell

Auch die JUNGE WELT berichtete über die Machenschaften des brd Regimes gegen diese mutige Kämpferin!

Aus: Ausgabe vom 21.01.2017, Seite 3 / Schwerpunkt

»Ein immenser Aufwand«
Wer sich bei der VVN-BdA engagiert, wird vom Geheimsdienst bespitzelt. Zu Recht, so das Wiesbadener Verwaltungsgericht. Gespräch mit Silvia Gingold
Interview: Markus Bernhardt


Gesammelte Werke der Geheimdienste: Silvia Gingold mit Unterlagen zu ihrer Bespitzelung durch den Verfassungsschutz, 12.1.2017, Justizzentrum in Wiesbaden
Foto: Arne Dedert/dpa

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am Dienstag sein Urteil im NPD-Verbotsverfahren bekanntgegeben und sich gegen ein Verbot der neofaschistischen Partei ausgesprochen. Wie bewerten Sie das?

Trotz der höchstrichterlich bescheinigten Wesensverwandtheit der NPD mit dem »Nationalsozialismus« darf diese Partei jetzt weiter legal ihr faschistisches Gedankengut verbreiten. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts habe sie nicht das Potential, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen. Sie sei also keine Bedrohung für die Demokratie. Dieses fatale Signal wird die rechten Kräfte bestärken in der Verbreitung von Hass und Aggression gegen Flüchtende, Ausländer und andere Minderheiten. Dies fand bereits seinen ersten Ausdruck in der jüngsten volksverhetzenden Rede des Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke, in der dieser das Holocaust-Mahnmal in Berlin als »Schande« bezeichnet und eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« forderte.

Wie erklären Sie sich, dass Antifaschisten von den Inlandsgeheimdiensten seit jeher kriminalisiert und bespitzelt werden, während die gleichen Behörden – Stichwort »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) – in rechten Terror verstrickt sind und neofaschistische Netzwerke und Parteien durch die gängige V-Leute-Praxis personell wie auch finanziell fördern?

Bedenkt man, dass der westdeutsche Inlandsgeheimdienst nach 1945 mit Hilfe eines Personals aufgebaut wurde, das schon im Dienste des Naziregimes gestanden hatte, dass ehemalige Nazifunktionäre wieder Führungsposten in der Justiz, der Verwaltung und der Politik bekamen, so ist es kaum verwunderlich, wenn der tief verwurzelte Antikommunismus durch diese Kräfte seine Fortsetzung fand. Kommunisten, darunter Widerstandskämpfer, die in KZs und Zuchthäusern von den Nazis eingesperrt waren, wurden in den 1950er Jahren erneut inhaftiert, die KPD verboten, die demokratische und Friedensbewegung als kommunistisch beeinflusst stigmatisiert und kriminalisiert. Vom »Radikalenerlass« der 1970er Jahre waren vorwiegend Mitglieder der DKP und anderer linker Organisationen und Bewegungen betroffen. Und heute betreibt der Inlandsgeheimdienst einen immensen Aufwand zur Überwachung und Bespitzelung von Linken, Antifaschisten und Friedensaktivisten, anstatt sich auf seine eigentliche Aufgabe, den Schutz der Verfassung vor dem NSU-Terror, vor rassistischer Gewalt, vor der Volksverhetzung durch Pegida und AfD, zu konzentrieren.

Sie selbst haben in der letzten Woche vor dem Wiesbadener Verwaltungsgericht gegen Ihre Überwachung durch das hessische Landesamt für Verfassungsschutz geklagt. Warum hält der Inlandsgeheimdienst Sie für derart gefährlich, dass er meint, Sie beobachten zu müssen?

Meine Überwachung wird mit meinen Aktivitäten begründet. Im Mittelpunkt steht hier die VVN-BdA, bei der es sich – nach Auffassung des »Verfassungsschutzes«, des VS, – um eine »linksextremistisch beeinflusste Organisation handelt, deren extremistische Beeinflussung maßgeblich durch die DKP erfolgt«. Das Amt sammelte Materialien über mich, die vorwiegend meine antifaschistischen und friedenspolitischen Aktivitäten dokumentieren. Beispielsweise eine Rede, die ich am Mahnmal »Die Rampe« während des Ostermarsches in Kassel gehalten habe, oder Fotos von mir bei einer Aktion gegen den »Tag der Bundeswehr« in Fritzlar.

Die Sammelwut des VS wird gekrönt durch ein eigens von diesem Amt hergestelltes Video mit meinem Beitrag auf einer DGB-Veranstaltung in Marburg Ende 2014 unter dem Titel »Verfassungsschutz, Bespitzelung, Berufsverbote«. Dort berichtete ich von meiner Bespitzelung vor mehr als 40 Jahren und die Fortsetzung der Überwachung bis heute. Neben mir auf dem Podium saß übrigens Bodo Ramelow, der ebenfalls über seine Beobachtung durch den VS referierte. Auch dieses Interview in der jungen Welt wird der »Verfassungsschutz« sicherlich erneut als Beleg meiner »linksextremistischen« Aktivitäten heranziehen.

Wenn ich Sie richtig verstehe, gilt also faktisch als Verfassungsfeind, wer sich gegen Neofaschismus und Krieg engagiert?

Im Schriftsatz des VS auf meine Klage liest sich das so: »Die VVN präsentiert sich öffentlich als Kämpfer gegen Rechtsextremismus, Nazis, Fremdenfeindlichkeit und Militarismus. Letztlich verfolgt sie allerdings als Ziel die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft«. Und selbst den »Schwur von Buchenwald« missbraucht der VS als Rechtfertigung für meine Beobachtung, indem er behauptet, dass sich dieser Schwur »mit der Aussage, dass nicht nur der Faschismus, sondern auch dessen Wurzeln vernichtet werden sollen ... auf die kommunistische Faschismustheorie Georgi Dimitroffs stützt«. Daraus schließt der VS, dass die VVN-BdA also die »›kapitalistische‹, mithin freiheitliche demokratische Grundordnung« ablehne. Fazit: »Damit erfolgt die Erhebung, aktenmäßige Erfassung sowie Speicherung von Daten zur Person der Klägerin durch den Beklagten rechtmäßig.«

Neben früheren Interviews, die Sie dieser Zeitung gegeben haben, wurden auch Veranstaltungen in Ihre Verfassungsschutzakte aufgenommen, bei denen Sie aus der Autobiographie Ihres Vaters, des antifaschistischen Widerstandskämpfers Peter Gingold, gelesen haben. Wie empfinden Sie derlei?

Das hat mich am meisten empört und fassungslos gemacht. Die Fortsetzung der Zeitzeugenarbeit meiner Eltern mit dem Vorwurf des Linksextremismus zu diffamieren war für mich der wichtigste Antrieb, mich gegen diese skandalöse Überwachung zu wehren.

Im Schriftsatz des VS werden meine Lesungen in herabwürdigender und respektloser Weise wie folgt kommentiert: »Dabei setzt sie den aus ihrer Familiengeschichte resultierenden extremen öffentlichen Bekanntheitsgrad bei ihrer Zusammenarbeit mit extremistischen Gruppen ›medien- und werbewirksam ein‹«. Dazu habe ich vor Gericht erklärt: »Ja, diese Erfahrungen meiner Eltern setze ich dafür ein, dass sich das, was sie erleben mussten, nie wiederholt. Schließlich waren es in erster Linie die Verfolgten, Zeugen der Naziverbrechen, die Gefolterten in den Konzentrationslagern, die Widerstandskämpfer, die dafür gesorgt haben, dass die Nazivergangenheit nicht in Vergessenheit geraten ist. Sie haben verhindert, dass ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen wurde, wie es viele nach 1945 am liebsten gehabt hätten. Mein politisches Engagement gilt diesem Ansinnen der Zeitzeugen.«

Wie haben Sie ansonsten den Verlauf der Gerichtsverhandlung wahrgenommen? Und wie geht es jetzt weiter?

In der Verhandlung stellte der Richter überhaupt nicht in Frage, ob die Beobachtung meiner Person durch den VS rechtmäßig sei. Er schloss sich der wiederholten Behauptung der Vertreter des VS an, ich sei nicht als Person beobachtet worden, sondern »Beifang« der Observierung von »linksextremistischen Organisationen«, in deren Umfeld ich politisch tätig bin. Weder die Vertreter des VS noch der Richter hatten ein Interesse an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Frage, welche meiner Aktivitäten nicht im Einklang mit der Verfassung stünden. Ich hatte Mühe durchzusetzen, dass ich meine Betroffenheit über die Bespitzelung in Form einer persönlichen Erklärung überhaupt vortragen konnte.

Meinen Antrag festzustellen, dass die Beobachtung meiner Person und die Speicherung der Daten von Anfang an rechtswidrig war, hat das Verwaltungsgericht zurückgewiesen. Damit werde ich mich nicht zufriedengeben, sondern weiter auf der Rechtswidrigkeit meiner Beobachtung bestehen. Mein zweiter Antrag, das Landesamt für Verfassungsschutz zu verpflichten, die Beobachtung ab sofort einzustellen, wurde an das Verwaltungsgericht Kassel verwiesen. Es wird also zu einer weiteren Verhandlung in Kassel kommen.

Sie haben sich in den 1970er Jahren bereits erfolgreich gegen ein Berufsverbot zur Wehr gesetzt, das damals gegen Sie erlassen wurde. Sind Sie optimistisch, den Geheimdienst auch in dem laufenden Verfahren in seine Schranken verweisen zu können?

Juristisch habe ich damals meine Klage gegen das Land Hessen nicht erfolgreich durchsetzen können. Ich wurde im Urteil des VGH Kassel zur Verfassungsfeindin gestempelt, und meine Verbeamtung wurde abgelehnt. Dass ich trotzdem wieder als angestellte Lehrerin arbeiten konnte, war ausschließlich ein Erfolg der breiten nationalen und internationalen Protest- und Solidaritätsbewegung, unter deren öffentlichem Druck ich wieder eingestellt werden musste. Diese Solidarität zeigt sich auch jetzt durch die Teilnahme von über 100 Freunden und Unterstützern am Prozess in Wiesbaden, die zahlreichen Briefe an das Gericht, das große Interesse der Medien. All das beweist, dass nur durch den Druck der demokratischen Öffentlichkeit politische Erfolge zu erringen sind.

Silvia Gingold engagiert sich in der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« (VVN–BdA) und im Kasseler Friedensforum. Sie ist Tochter der bekannten antifaschistischen Widerstandskämpfer Ettie und Peter Gingold
Hintergrund: Kontinuität der Verfolgung


Silvia Gingold ist aufgrund ihres anhaltenden Engagements gegen Faschismus und Krieg ins Visier der deutschen Inlandsgeheimdienste geraten. Schon ihre Eltern, Ettie und Peter Gingold, waren von den Nazis als Juden und Kommunisten verfolgt worden. Während sich die Familie in Deutschland stets gegen Verfolgung, Überwachung und Diffamierungen zur Wehr setzen musste, genoss sie im europäischen Ausland hohe Anerkennung. Denn Gingolds Eltern hatten während der Besatzung der Wehrmacht in Frankreich in der Résistance gekämpft. Sogar der spätere französische Staatspräsident François Mitterrand setzte sich in den 1970er Jahren persönlich für ein Komitee zur Verteidigung der Bürgerrechte in der Bundesrepublik ein und richtete ein Solidaritätsschreiben an Silvia und ihre Eltern. Silvia Gingold war damals aus dem Schuldienst entlassen und mit einem Berufsverbot belegt worden. Dieses wurde aufgrund des großen öffentlichen Drucks und einer Solidaritätskampagne zurückgenommen.

Auch heutzutage solidarisieren sich viele Menschen und Organisationen mit Silvia Gingold. »Der deutsche Inlandsgeheimdienst fühlt sich trotz der öffentlich gewordenen Verstrickungen mit dem NSU und der militanten Naziszene offensichtlich unangreifbar«, kritisierte etwa die Rote Hilfe am 4. Januar in diesem Zusammenehang. In dem von Gingold angestrengten Verfahren werde es darum gehen, »ob dem ›Verfassungsschutz‹ in der Verfolgung unliebsamer Linker überhaupt noch irgendwelche Grenzen gesetzt« seien, so die linke Rechtshilfe- und Solidaritätsorganisation.

»Im Prozess ›Silvia Gingold gegen Land Hessen‹ hat der Verfassungsschutz erklärt, dass es verfassungsfeindlich sei, sich auf den Schwur der Häftlinge von Buchenwald zu berufen. Dieser Geheimdienst bespitzelt Linke, unterstützt Nazis – und beschimpft das Erbe des antifaschistischen Widerstandes als antidemokratisch. Wer Antifaschismus und Demokratie will, muss sie gegen diesen Geheimdienst und gegen die Landes- und Bundesregierungen erkämpfen«, stellte Patrik Köbele, Vorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), in der vergangenen Woche klar.

Die Inlandsgeheimdienste gehören auch zu den eifrigen Lesern dieser Tageszeitung. So monierte das Landesamt für Verfassungsschutz im von CDU und Bündnis 90/Die Grünen regierten Hessen in einem jW vorliegenden Schriftsatz die bisherige Berichterstattung dieser Zeitung im Fall Gingold. »Die jW ist Beobachtungsobjekt des BfV« (Bundesamt für Verfassungsschutz), heißt es in dem Schreiben. (bern)

Quelle

https://www.jungewelt.de/2017/01-21/013.php?sstr=gingold
Gegen System und Kapital!


www.jungewelt.de

dagobert

Zitat von: Rappelkistenrebell am 16:15:32 Fr. 27.Januar 2017
Das Bundesverfassungsgericht entschied in einem Grundsatzurteil im Jahre 1954: ,,Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche."
Zweifellos eine interessante Aussage des Verfassungsgerichts, aber hier von einem "Grundsatzurteil" zu sprechen halte ich für übertrieben.
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv004007.html


Zitat von: Rappelkistenrebell am 16:15:32 Fr. 27.Januar 2017Ahlener Programm der CDU von 1947
Die Hitlerzeit war also ein "getarnter Staatssozialismus", soso.

http://www.kas.de/upload/themen/programmatik_der_cdu/programme/1947_Ahlener-Programm.pdf
"Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden."
Thomas Mann, 1936

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