Hartz IV - Realität des neuen Gesetzes

Begonnen von Hans guck in die Luft, 16:40:39 Di. 27.April 2004

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Hans guck in die Luft

Vorwort
Bevor das Vierte Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) beleuchtet wird, lohnt es sich einen einzelnen Punkt aus vorherigen "Reformgesetzen" (Hartz I + II) am konkreten Beispiel zu beleuchten. So wurden auch die Regeln für sogenannte "Minijobs", also Jobs bis zu einem Verdienst bis 400 Euro neu bestimmt. Einige Zeit später meldete die Bundesanstalt für Arbeit 900000 neue Jobs auf dieser Basis, und wies nach, dass nicht alle aus der Legalisierung von Schwarzarbeit hervorgegangen waren. Dies kann an einem Beispiel aus dem Marburger Einzelhandel, bei einer Lebensmittelkette, bestätigt werden. Das fest angestellte Personal wurde Zug um Zug, mittels Outsourcing über ein Lohnabrechnungsbüro aus Lohmar nahe Köln, durch Minijobber ersetzt.

Diese verdienen jetzt 5,50 Euro die Stunde und müssen für 400 Euro halbtags durcharbeiten. Mini ist nur der Verdienst. Kein Anspruch auf Urlaub, keine Mindeststundenzahl, keine festgelegten Arbeitszeiten, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall - nichts. Hartz wirkt; exakt so, wie es geplant war. Dies sollte bei der Lektüre des Folgenden immer beachtet werden.

Einleitung
Zwischen dem, was in der Öffentlichkeit über dieses sogenannte Reformpaket geschrieben und gesagt wurde, und den Realitäten des Gesetzestextes, besteht ein erheblicher Unterschied. Auch nach den "Glättungen", aus Anlass der "Proteste" der sogenannten "Linken" in der SPD, hat sich daran nicht viel geändert. Die meisten Änderungen waren schlicht Korrekturen handwerklicher Fehler im Gesetzentwurf, tatsächliche Änderungen waren die Ausnahme und wurden im Vermittlungsausschuss wieder kassiert.

Vor allem aber ging die öffentliche Diskussion in den Mainstream-Medien am eigentlichen Inhalt weitgehend vorbei; nur so konnte der Entwurf im Vermittlungsausschuss noch einmal verschärft werden. Ziel muss es also hier sein, die Realität dieses Gesetzes und die Quelle so vieler Missverständnisse darzustellen. Der Entwurf des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt enthält in seiner Druckfassung im wesentlichen drei Teile:

    * - ein Anschreiben mit Resümee
    * - Neufassung des SGBII mit neuer Zuständigkeit und daraus folgende Änderungen
    * - Erläuterungen zu den einzelnen Paragraphen

Die entscheidenden Diskrepanzen liegen nun zwischen den Paragraphen, die in verschärfter Form Gesetz wurden, und ihren Erläuterungen im hinteren Teil. Diese Erläuterungen sind aber keine rechtsverbindliche Interpretation der Gesetze, sondern Öffentlichkeitsarbeit. Auf diesen Teil stützt sich die Wahrnehmung in den Medien, mit dem Ergebnis, dass die eigentliche Bedeutung der Agenda 2010 in der Öffentlichkeit überhaupt nicht erfasst wird. Lange Zeit war Prof. Uwe Berlit, Richter am Bundesverwaltungsgericht, die einzig deutlich vernehmbare Stimme, die auf die Diskrepanzen und auf die Inhalte des Gesetzentwurfs überhaupt hingewiesen hat.

Darstellung Hartz IV
Als wichtigster finanzieller Aspekt dieses Gesetzes wird die Streichung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe angesehen. Hier von Zusammenlegung zu sprechen ist irreführend, es suggeriert eine simple Kürzungsrunde nach der für die deutsche Sozialpolitik so kennzeichnenden Salamitaktik. Auch diese einfachen Kürzungen gibt es, die üblichen Verschlechterungen. Wichtig ist da die radikale Kürzung der Bezugsdauer für Arbeitslosengeld, dies trifft vor allem den im regulierten Bereich arbeitenden sog. "Facharbeiter" - also den Stammwähler der SPD.

Im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld erwartet ihn nämlich der direkte Absturz ins Fürsorgerecht. Denn statt Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe gibt es nun Arbeitslosengeld II für Erwerbsfähige und Sozialgeld in gleicher Höhe für nichterwerbsfähige Angehörige. Beide Leistungen unterliegen dem Fürsorgerecht und nicht wie bisher die Arbeitslosenhilfe dem Lohnersatzleistungsrecht. Anfänglich soll dieser Absturz durch einen "befristeten Zuschlag" bis höchstens 160 Euro (§24) abgefedert werden; schon im Namen ist die baldige Streichung angelegt.

Ein Antrag auf Arbeitslosengeld II ist also für den Antragsteller praktisch dasselbe wie ein Sozialhilfeantrag, aber nicht nur für ihn, sondern für die gesamte "Bedarfsgemeinschaft", also für sein gesamtes unmittelbares Umfeld, bedeutet das die komplette Durchleuchtung. Es gilt grundsätzlich das Nachrangprinzip (§3 Abs.3) der Sozialhilfe; d.h. es entsteht nie ein von den gesamten finanziellen Verhältnissen der Bedarfsgemeinschaft unabhängiger Leistungsanspruch. Alle, und nicht nur der Antragsteller, kommen unter das Joch des Fürsorgerechts.

Die Definition dieser Bedarfsgemeinschaft ist trickreich in zwei Absätze aufgeteilt: der eine folgt etwa der bisherigen Regelung bei der Arbeitslosenhilfe; der andere (§9 Abs.5) legt fest, dass alle Verwandten und alle verschwägerten Personen im gleichen Haushalt faktisch dazuzählen - es wird einfach davon ausgegangen, dass sie Unterhaltszahlungen leisten. Gegenüber der ersten Fassung stehen nun im Gesetz einige Klarstellungen zur Unterhaltspflicht: entfernt lebende Angehörige ersten Grades müssen keinen Unterhalt leisten, wenn der Bezieher von Arbeitslosengeld II älter als 25 Jahre ist, oder seine Erstausbildung abgeschlossen hat und Unterhalt von seinen Angehörigen nicht verlangt (§33).

Datenschutz gibt es nicht; die gesamte Verwandtschaft kann genötigt werden, die Hosen runterzulassen, genau wie Freunde und Lebenspartner. Sogenannte "Trainingsmaßnahmen" wurden verschärft und können mit einer Prüfung versehen (§61 Abs.2) - damit kann man jeden aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II und aus der Statistik heraus drängen. Widerspruch und Anfechtungsklage haben auch weiterhin keine aufschiebende Wirkung; die Strafe kommt immer vor dem Urteil.

Für die Bedarfsgemeinschaft wird dann nach Sozialhilfekriterien ein Bedarf zur Grundsicherung errechnet - wozu alles offenzulegen ist. Davon werden dann die Einkommen (§11, §30) und überschüssigen Vermögen (§12 Anrechnung nach aktuellen Regelung bei der Arbeitslosenhilfe), abgezogen und dann wird, analog zum Verfahren bei der Sozialhilfe, bis auf Arbeitslosengeld II aufgestockt. (Die Anrechnungsbestimmungen können jederzeit verschlechtert werden, der Bund hat sich mit §13 eine entsprechende Verordnungsermächtigung ins Gesetz schreiben lassen.) Hinzu kommt der Wohnkostenzuschuss für angemessenen Wohnraum nach Sozialhilfekriterien.

Wohngeld entfällt, Wohnungswechsel müssen begründet und von den Kommunen genehmigt werden (§22). Ein paar Euro rauf, ein paar Euro wieder runter, alle werden knapp unter der bisherigen Sozialhilfe landen, denn daran orientiert sich Arbeitslosengeld II, aber ohne deren generelle Schutzfunktion zu übernehmen. Der Grundbedarfssatz für Alleinstehende samt der damit pauschaliert abgegoltenen Einmalleistungen beträgt 345 Euro West und 331 Euro Ost. Einmalige Beihilfen der Sozialhilfe sind bis auf wenige Ausnahmen (§21, Schwangere, Pflege, Behinderung) gestrichen und im Differenzbetrag zur bisherigen Sozialhilfe zu gering pauschaliert. Zusätzlich können Kann-Leistungen nach Kassenlage vergeben werden. Rechtsanspruch auf Eingliederungsmaßnahmen, abgesehen von der unvergesslichen "Beratung", gibt es nicht. Eine bundesweite Pauschalierung des Wohnkostenzuschusses ist nicht geplant aber auf kommunaler Ebene möglich. Diese Kosten müssen nach der nun vorliegenden Fassung von den Kreisen und kreisfreien Städten übernommen werden. Hier steht dieses Gesetz im Zusammenhang mit der Reform der Gemeindefinanzen, ebenfalls ein Teil der Agenda 2010.

Nebenher war in der öffentlichen Diskussion viel von "Arbeitsanreizen" die Rede, es sollen die Nebenverdienstmöglichkeiten wesentlich besser sein als bisher für Sozialhilfebezieher. Blanke Schönfärberei, denn schon heute beziehen bundesweit 144000 Beschäftigte (davon 80000 Vollzeitbeschäftigte) ergänzende Stütze zum Niedriglohn und bekommen dafür einen höheren Bedarfssatz angerechnet. Klaus Pohl von der Hauptstadtvertretung der Bundesagentur für Arbeit in Berlin hatte es genau ausgerechnet: nach dem Gesetzentwurf konnten ledige Sozialhilfebezieher 10 Euro mehr, und ledige Arbeitslosenhilfebezieher 10 Euro weniger hinzuverdienen, wenn sie dann beide auf Arbeitslosengeld II gesetzt werden.

Weil diese Regelungen wohl noch nicht hart genug waren, wurden sie im Gesetz (§30) noch einmal verschärft. Jetzt gibt es überhaupt keinen festgesetzten Freibetrag für einen Nebenverdienst mehr, sondern grundsätzlich gestaffelte Anrechnung eines auch noch so kleinen Einkommens. Bei einem Minijob bis 400 Euro werden 85% des Verdienstes auf das Arbeitslosengeld II angerechnet (also davon abgezogen). Wer diesen Rahmen ausschöpft, darf exakt 60 Euro zusätzlich einbehalten. Diese Regelung stellt in der Praxis eine Verschlechterung gegenüber der jetzigen Regelungen bei der Sozialhilfe dar, da besonderer Bedarf (Fahrtkosten, Arbeitskleidung etc.) keinen Freibetrag mehr begründet. Für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse bis 900 Euro gelten geringfügig bessere Bedingungen.

Die wirkliche Bedeutung der neuen Arbeitsmarkt- und Sozialgesetze erschließt sich aber erst, wenn man nicht allein die extremen Leistungskürzungen betrachtet. So wurde das SGB II praktisch neu geschrieben und hat eine entsprechende Systematik. D.h., die ersten Paragraphen geben Ziel und Interpretation des gesamten Regelwerks vor. Die im hinteren Teil des Gesetzentwurfs erhältlichen Erläuterungen dieser ersten Paragraphen geben ungefähr den Stand der Diskussion in der Öffentlichkeit wieder:

Aus den Erläuterungen
Zu § 2 Grundsatz des Forderns
Die Vorschrift regelt die Pflichten des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen. Der erwerbsfähige Hilfebedürftige muss sich vorrangig und eigeninitiativ um die Beendigung seiner Erwerbslosigkeit bemühen. Er muss seine Bedürftigkeit so weit wie möglich beseitigen und aktiv an allen Maßnahmen mitwirken, die seine Eingliederung unterstützen sollen, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung abschließen. Zentrale Forderung des neuen Leistungssystems ist die Eigenverantwortung des Erwerbsfähigen, der alle Möglichkeiten nutzen und vorrangig seine Arbeitskraft einsetzen muss, um seinen und der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Erwerbsfähige soll nicht abwarten dürfen, dass die Agentur für Arbeit ihm eine Arbeitsstelle vermittelt, sondern er muss sich eigenständig um seine berufliche Eingliederung bemühen. Die Eingliederungsleistungen der Agentur für Arbeit unterstützen diese Bemühungen. Ziel ist es, den Erwerbsfähigen möglichst unabhängig von der Eingliederung in Arbeit durch die Agentur für Arbeit zu machen. Auf Verlangen der Agentur für Arbeit sind erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Erwerbstätigkeit finden können, verpflichtet, eine angebotene Arbeit anzunehmen. (Hervorhebungen M.B.)

So wurde das in den letzten Monaten diskutiert, eine angebotene Arbeit muss angenommen werden und alle Möglichkeiten zur Beendigung des Bezugs von Arbeitslosengeld II müssen genutzt werden. Suggeriert wurde eine auf den individuellen Erwerbslosen zugeschnittene Leistung, eben eine Art Arbeitslosengeld, die sich irgendwie aus der Zusammenlegung bisheriger Leistungen ergibt. Im Gesetzestext steht nun etwas sprachlich ähnliches, aber juristisch anderes:
Es gibt kaum etwas Naiveres als die Ansicht, alles müsse wie von selbst funktionieren.
Aktive Demokratie


aian19

Danke, sehr aufschlußreicher Artikel. Deckt sich im übrigen auch mit allem anderen, was ich bisher zu diesem Thema gelesen habe in diversen Artikeln und Foren. Hatte vor ca. 3 Jahren noch eine Diskussion mit einem Bekannten, der bei Siemens beschäftigt war, ich selbst zu der Zeit bei einer Zeitarbeitsfirma. Der mokierte sich auch über das arbeitsscheue Leiharbeitergesindel, die nicht arbeiten wollen, während ich versuchte, ihn über die Arbeitskonditionen der Leiharbeiter und die daraus resultierende Unlust aufzuklären.
Mittlerweile ist er im Rahmen der "Umstrukturierung" des Siemens-Konzerns im Betriebseigenen Leiharbeiterzweig der Firma, wenn man das so formulieren kann, gelandet, von seinem ursprünglichen Lohn sind noch 10,40 € Brutto/Stunde geblieben. Er ist jetzt allerdings krankgeschrieben seid geraumer Zeit ( :twisted: ) und diskutieren will er mit mir auch nicht mehr... :twisted:  :twisted:  :twisted:
Aber um beim Thema zu bleiben, Boykotte und Demos werden hier wohl nichts mehr bewegen ! M.E. hilft hier nur noch eine Revolution wie 1789 in Frankreich. Ich z.B. werde mir, wenn ich eine Sperre bekomme und für meine Kinder und uns nix mehr zu beißen kaufen kann, mir die Adresse von dem zuständigen Sachbearbeiter besorgen und bei ihm mal privat auf der Matte stehen und mir den "Bedarf zum Leben" persönlich aus seinem Haushalt holen.
Was wir hier sehen, ist nichts anderes als die 3.Form des Terrors !
Die 1. Form ist die von Organisationen wie z.B. Al-Qaida gegen Staaten,
die 2. Form ist der Staatsterrorismus gegen andere Bevölkerungsgruppen, wie ihn Israel praktiziert,
und die 3. Form wird hier in Deutschland kultiviert, die des Staates gegen seine eigene Bevölkerung.
Denn wenn hier erstmal die sozial schwachen "domestiziert" sind, geht es denen an den Kragen, die jetzt noch Arbeit haben und an Stammtischen "richtig so..." brüllen, so wie meinem Freund von Siemens.
"Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren"

"Wenn Unrecht zu Gesetz wird, ist der Gesetzlose der einzige, der noch rechtmäßig handelt."

Mene mene tekel upharsin

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